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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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gefaltete Papierservietten. Giulietta lächelte unsicher, doch der Kellner verzog keine Miene, fand irgendwo auf dem Marmortischchen auch noch Platz für einen kleinen gewölbten Aluminiumständer mit einem herausragenden Dorn, den er gewissenhaft vor sie hinschob, bevor er den Kassenbon darauf aufspießte.
    Giulietta betrachtete fasziniert diesen multikulturellen Aufmarsch von Kaffeekultur vor sich auf dem Tisch. Sie kostete den Zimt, schielte auf die Rechnung, die auch nicht höher ausgefallen war als in der Speisekarte für einen Espresso angegeben, ignorierte die Sahne und träufelte behutsam den Milchschaum in die Espressotasse. Was für eine Stadt!
    Dass sie sich in San Telmo befand und der Platz vor ihren Augen sonntags einen beliebten Antiquitätenmarkt beherbergte, hatte sie bereits in der U-Bahn nachgelesen. Jetzt entnahm sie ihrem Reiseführer, dass hier außerdem auf der Straße Tango getanzt würde. Wie üblich schloss das Kapitel auf eine negative Note und erwähnte, die Preise für die Antiquitäten seien absurd hoch und das Tango-Spektakel völlig touristisch und eine gute Gelegenheit, seine Geldbörse an Taschendiebe zu verlieren. Sie blätterte zum San-Telmo-Kapitel zurück und erfuhr, dass der etwas heruntergekommene Stadtteil im Herzen von Buenos Aires einstmals bevorzugter Wohnort der wohlhabenden Oberschicht gewesen war. Eine Gelbfieber-Epidemie führte im neunzehnten Jahrhundert zu einer Massenflucht. Wer es sich leisten konnte, übersiedelte in den höher gelegenen, vor Überschwemmungen sicheren Teil von Buenos Aires, der grob dem heutigen Palermo-Viertel entsprach. San Telmo füllte sich mit der nachrückenden proletarischen Bevölkerung aus dem Hafenviertel La Boca. Bis heute war nicht ganz entschieden, was aus diesem zerzausten Stadtteil im Herzen von Buenos Aires einmal werden sollte.
    Es war der nächste Absatz, der sie schockte.
    »Die Fotos der so genannten Verschwundenen, die in San Telmo immer wieder die Häuserwände zieren, rufen dem Besucher in Erinnerung, dass Argentinien einen traurigen Rekord im Hinblick auf frei herumlaufende Massenmörder und folternde Psychopathen hält. Kaum einer der Handlanger des argentinischen Staatsterrorismus, dem zwischen 1976 und 1983 schätzungsweise dreißigtausend Menschen zum Opfer gefallen sind, ist jemals belangt worden. Nicht wenige der Täter wohnen heute in den Häusern derer, die sie damals im Schutz der Militärdiktatur zunächst erpresst und dann ermordet haben. Überlebende dieser staatlichen Folter- und Konzentrationslager dürfen damit rechnen, ihren ehemaligen Peinigern auf offener Straße zu begegnen. Eine juristische Handhabe gegen sie gibt es seit Präsident Menems Amnestiegesetz nicht mehr. Die Mütter und Großmütter dieser Verschwundenen, die in der Mehrzahl zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt waren, gehen bis heute jeden Donnerstagnachmittag auf der Plaza de Mayo vor dem Regierungsgebäude vergeblich im Kreis, um Gerechtigkeit für ihre vom Staat verschleppten, gefolterten und ermordeten Kinder und Enkel zu fordern. Der Volksmund nennt sie liebenswürdigerweise
las locas
, die Verrückten.«
    Las locas. El loco.
    Giulietta lehnte sich zurück, stützte ihren Kopf gegen die Holztäfelung und fixierte die Rotorblätter des Deckenventilators. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und machte dem Kellner matt ein Zeichen, dass sie gerne noch ein Glas Wasser hätte. Sie begann, dieses Buch zu hassen. 1976. Da war sie noch nicht einmal geboren gewesen. Sie wusste nicht, warum es hier eine Militärdiktatur gegeben hatte. Recht besehen, wusste sie überhaupt nichts über dieses Land oder sonstige Länder in dieser Region. Brasilien, Chile, Paraguay, Uruguay. Ihre Assoziationen hierzu waren ein diffuses Gemisch aus Reiseeindrücken von Freunden oder Bekannten – und Zeitungsmeldungen, die austauschbar waren. Über Chile stand zur Zeit durch die Verhaftung Pinochets sehr viel in den Zeitungen. Außerdem waren die Exilchilenen in Berlin immer sehr aktiv gewesen. Das war in Form von Flugblättern und soundso vielen Einladungen zu Benefizkonzerten für Menschenrechtsgruppen sogar in die abgeschotteten Räume ihrer Ballett-Schule vorgedrungen. Allende war ihr ein Begriff. Und sie hatte auch einmal einen Film über einen Amerikaner gesehen, dessen Sohn während des Putsches in Chile ermordet worden war. Jeder kannte diese Bilder des zum Massengefängnis umfunktionierten Fußballstadions in Santiago de Chile. Aber mit Argentinien

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