Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Land …«
»Aha …?«
»… und Familie Alsina ist keine gewöhnliche Familie. Damián ist ein außergewöhnlicher Junge, das heißt, heute ist er ja wohl ein junger Mann. Falls Sie ihn noch treffen sollten, so grüßen Sie ihn bitte von mir.«
»Sicher, das werde ich tun.«
»Tangotänzer, sagten Sie.«
Giulietta nickte. »Das hat er mir jedenfalls geschrieben.«
»Wann hatten Sie denn das letzte Mal Kontakt mit ihm?«
»Im Sommer 1997, also im August oder September, glaube ich.«
Jetzt hielt sie es fast nicht mehr hier aus. Sie spürte einen Kloß im Magen. Es kostete sie einige Mühe, sich zusammenzureißen. Warum log sie diesem Mann etwas vor? Natürlich war er misstrauisch. Sie konnte ja üble Absichten haben. Doch zugleich war sie maßlos enttäuscht über dieses Gespräch. Was hatte sie sich nur davon versprochen?
»Eigenartig«, sagte der Mann. »Wissen Sie, Damián hat die Schule vorzeitig verlassen. Ich habe mich oft gefragt, warum? Er war sehr begabt, müssen Sie wissen. Aber dass er Tänzer geworden sein soll, das überrascht mich doch sehr. Ich meine, er war so völlig das Gegenteil eines … ja, wie soll ich sagen …?«
Er schüttelte verständnislos den Kopf.
»Vielleicht war das ja nur eine Phase«, schlug Giulietta vor und überlegte nur noch, wie sie schnell aus diesem Zimmer herauskommen konnte. Doch Herr Ortmann schien auf einmal ein reges Interesse an diesem Gespräch zu entwickeln. Ohne sich darum zu kümmern, dass sie bereits stand, setzte er sich wieder hin.
»… sehen Sie, ich hatte damals schon von ihm gehört, weil er diesen Astronomiepreis gewonnen hatte.« Er sprach, ohne aufzuschauen, als denke er laut. Dann, nach einer kurzen Pause, blickte er zu ihr auf und fuhr fort: »Sie werden schon gemerkt haben, dass dies hier kein gewöhnliches Gymnasium ist. Es ist eine Eliteschule, in die Sie nicht einmal mit Geld oder Beziehungen hereinkommen. Sie müssen schwierige Prüfungen bestehen, um hier aufgenommen zu werden, und wenn Sie hier Abitur machen, können Sie ohne Aufnahmeprüfung an den Universitäten der Stadt studieren. Aber bitte, setzen Sie sich doch noch für einen Augenblick, oder müssen Sie schon ins Theater zurück?«
Giulietta schaute auf die Uhr, tat so, als rechnete sie, setzte sich dann und sagte: »Etwas Zeit habe ich noch.«
»Damián«, fuhr er fort, »war in der Schule schon bekannt, bevor er zu mir in den Deutschunterricht kam. Der Mathematiklehrer schwärmte von ihm. Es gibt hier eine richtige Sternwarte im Dachgeschoss und immer wieder Schülergruppen, die an internationalen Wettbewerben teilnehmen. 1991 war Damián in solch einer Gruppe. Es ging um die Bewegung der Jupitermonde. Ich kenne mich damit nicht aus, aber die Gruppe gewann den ersten Preis. Vom Mathematiklehrer weiß ich, dass Damián den größten Anteil an der Lösung der schwierigen Gleichungen gehabt hat. Er war ein Musterschüler. Ein Jahr später begann er plötzlich zu fehlen. Zunächst dachte sich niemand etwas dabei. Wir vermuteten, dass er sich langweilte und ›libre‹ werden wollte …«
»Libre?«
»Man muss hier nicht zum Unterricht kommen. Wer will, schreibt sich als … wie sagt man das im Deutschen … Freigänger …«
»Nein.« Giulietta musste lachen. »So nennt man, glaube ich, Gefangene im offenen Strafvollzug.«
»Natürlich. Mein Deutsch ist auch nicht mehr, was es einmal war. Also, Sie verstehen, was ich meine?«
Der Mann war allmählich wie ausgewechselt. Sein Gesicht wirkte plötzlich lebendig. Giulietta hatte keine Erklärung dafür, aber während sie ihm zuhörte, beschlich sie eine Ahnung. Dieser Lehrer schien Damián sehr gemocht zu haben. Würde er sonst so von ihm erzählen, sich an solche Einzelheiten erinnern? Und warum war sein Misstrauen plötzlich wie weggefegt? Warum erzählte er ihr das alles? Erst gegen Ende begriff sie es: der Mann hatte das gleiche Problem wie sie selbst. Damián war ihm ein komplettes Rätsel.
»… er kam einfach nicht mehr zum Unterricht. Nur zu mir kam er noch eine gewisse Zeit. Die anderen Lehrer fragten mich sogar irgendwann, ob ich wüsste, was mit ihm sei. Aber ich hatte keine Ahnung und sah auch keine Veranlassung, mich einzumischen. Schließlich war die Teilnahme am Fach Deutsch freiwillig. Ich weiß nicht einmal, warum er es gelernt hat. Ich vermutete, es war einfach eine intellektuelle Herausforderung für ihn. Sie sagten ja selbst, wie fehlerlos seine Briefe waren. Er ließ alles andere schleifen und
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