Drei Minuten mit der Wirklichkeit
freundlich.«
»Das Schulgebäude ist nicht weit von Ihrem Hotel entfernt. Haben Sie etwas zum Schreiben, ich erkläre Ihnen den Weg.«
Die Stimme, die ihr den Weg erläuterte, war jetzt freundlicher. Das Misstrauen darin war nicht ganz verschwunden, aber offenbar hatte der Mann Interesse daran, sich mit ihr zu treffen, denn die Wegbeschreibung war fast übertrieben detailliert.
»Kommen Sie gegen vierzehn Uhr und sagen Sie am Eingang, dass ich Sie erwarte. Ich werde dann benachrichtigt und hole Sie dort ab. Einverstanden?«
»Ja. Vielen Dank.«
»Sprechen Sie Spanisch?«
»Nein, leider nicht.«
»Gut, dann sagen Sie am Empfang einfach meinen Namen.«
»Das werde ich tun. Danke.«
»Wann haben Sie zum letzten Mal etwas von Damián gehört?«
Die Frage kam völlig überraschend.
»Vor zwei Jahren«, log sie.
Stille.
»Und Sie unterhielten eine Brieffreundschaft? Auf Deutsch?«
»Ja.«
»Hatte er damals die sz-Regel endlich verstanden?«
Sie wurde nervös. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass der Mann am anderen Ende der Leitung ihr zutiefst misstraute. Aber dennoch wollte er sich mit ihr treffen. Doch warum begann er jetzt, sie auszufragen?
»Seine Briefe waren fast fehlerlos«, erwiderte sie, »aber ich weiß nicht, wie lange er gebraucht hat, um sie zu verfassen. Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«
Stille.
»Nein, das kann man nicht sagen. Aber vielleicht kann ich Ihnen doch behilflich sein. Ich erwarte Sie um zwei im Colegio Nacional. Bitte seien Sie pünktlich.«
Da kam der Lehrer zum Vorschein. Oder vielleicht besser: der deutsche Lehrer. Sie bedankte sich höflich und legte auf. Herr Ortmann aus Bottrop. Wie lange er wohl schon hier lebte?
6
S ie war den ganzen Morgen ziellos herumgelaufen. Nach der sonntäglichen Leere und der mitternächtlichen Überfüllung schien die Stadt heute Morgen zum ersten Mal normal zu sein, ein durchaus erträgliches Chaos aus Autos, Bussen und Fußgängern. Mehrfach sah sie junge Burschen, die große Tabletts mit dampfenden Kaffeetassen zwischen den aufgestauten Fahrzeugen hindurchbalancierten, um sie vermutlich in irgendwelchen Büros abzuliefern. Sie musterte die Gesichter der Menschen, ihre Kleidung, ihre Gebärden, konnte sich jedoch nicht entscheiden, ob ihr das alles fremd oder vertraut erscheinen sollte. Wenigstens in diesem Punkt hatte der seltsame Reiseführer Recht behalten. Die Stadt und ihre Einwohner wirkten sehr europäisch. Der einzige Unterschied bestand in schwer fassbaren Kleinigkeiten, die ihr schon an der Kleidung der Menschen auf dem Flughafen von Rio aufgefallen waren. Altmodisch war nicht das richtige Wort. Es schien nur, als ob die Zeit hier etwas widerspenstiger verging. Vielleicht gab es ja auf der Erde auch so etwas wie eine Relativitätstheorie für die Zeit, die eben ein wenig langsamer verging, je weiter von den Macht- und Modezentren entfernt man sich durch ein Jahrzehnt oder ein Jahrhundert hindurchbewegte? Bisweilen verblüffte sie ein Detail an einem Haus, ein Erker oder eine Stuckverzierung, die genauso in Berlin oder Paris vorstellbar gewesen wären. Auch die Marmortische in den Cafés, die Stühle, die Leuchter, die Mokkatassen, alles wirkte so vertraut, als habe man diese Stadt vor vielen Jahren komplett aus Europa hergeschafft und erst allmählich das eine oder andere Originalteil durch lokale Produkte ersetzt.
Lästig waren die Blicke der Männer, die keinerlei Skrupel zu kennen schienen. Was sie ihr sagten, wenn sie aufdringlich ein paar Meter neben ihr her liefen, wusste sie nicht. Aber allein der Tonfall ihrer Bemerkungen sprach Bände. Einer ahmte schmatzend obszöne Küsse nach und ergriff sie sogar am Arm. Sie reagierte sofort und schrie ihn laut auf Deutsch an. Er war so überrascht, dass er auf der Stelle davonging, nicht ohne sich noch zweimal nach ihr umzusehen. Sie hatte eine Weile gebraucht, sich von dem Schreck zu erholen. Die Männer hier waren eine verfluchte Pest.
Sie fuhr mit der Metro ins Zentrum. Ein kleiner Junge ging im Waggon auf und ab und bot Jasminsträußchen feil. Niemand beachtete ihn. Es war eng und heiß. Die Körper kamen sich nah, doch niemanden schien das zu stören. Giulietta tat es instinktiv den anderen Frauen gleich und mied jeglichen Augenkontakt. Sie spürte, wie sie vermessen wurde. Es war nicht zu ändern. Sie hatte getan, was sie konnte, trug die Haare hoch gesteckt, eine Sonnenbrille, eine hoch schließende Bluse, die locker und ohne irgendwelche Abdrücke zu hinterlassen über
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