Drei Minuten mit der Wirklichkeit
lernte nur noch Deutsch. Ich weiß, dass es einen Riesenkrach mit seinen Eltern gab. Danach ging es eine Weile gut, und dann kam er überhaupt nicht mehr, auch nicht zum Deutschunterricht. Ende 1992 erschien er nicht zu den Examina und wurde der Schule verwiesen. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Aber das Letzte, was ich erwartet hätte, ist das, was Sie mir heute berichtet haben. Tangotänzer …«
Er schüttelte den Kopf.
»Man weiß einfach nie, was in den Menschen steckt, nicht wahr?«
Giulietta hatte ungläubig zugehört. Mathematik? Astronomie? Musterschüler? Unmöglich, dass sie von der gleichen Person sprachen. Sie hatte stumm zurückgerechnet. 1992. Da war er sechzehn gewesen. Zwei Jahre später hatte er Nieves erobert. Sie konnte sich leicht vorstellen, was es bedeutete, in so kurzer Zeit ein solches tänzerisches Niveau erreicht zu haben. Kein Wunder, dass er nicht mehr in der Schule aufgetaucht war. Er musste wie ein Verrückter trainiert haben. Er war irgendwie mit diesem Tanz in Kontakt gekommen und hatte eine ganz andere Seite seines Wesens entdeckt. So etwas kam öfter vor. Sie kannte solche Fälle aus dem Ballett. Sogar manche der großen Stars hatten spät begonnen.
»Aber seine Schulfreunde wussten doch bestimmt von seinem neuen Hobby, oder?«
»Offenbar nicht, denn das hätte ich erfahren«, sagte Ortmann und legte die Akte, die er die ganze Zeit auf dem Schoß gehabt hatte, wieder auf den Tisch zurück. »Damián brach nicht nur die Schule ab. Er zog sich völlig zurück. Manche dachten sogar, er wäre in eine andere Stadt gezogen.«
Jetzt war sie sich sicher. Ortmann hatte Damián sehr gemocht. Sein Werdegang beschäftigte ihn noch, obwohl er seit Jahren nichts mehr von ihm gehört hatte.
»Lernen viele Schüler hier Deutsch?«, fragte sie dann.
»Nein, nicht sehr viele. Ich unterrichte das nur, weil es sonst keiner macht. Von der Ausbildung her bin ich Englischlehrer. Das wollen alle hier lernen. Mit Deutsch kann man nicht viel anfangen.«
»Und Damiáns Familie. Hat sie irgendwelche Kontakte nach Deutschland? Ich meine, es ist doch interessant, dass er die Sprache lernen wollte, oder?«
Ortmann schaute sie an. Sein Argwohn war völlig verschwunden, und Giulietta fühlte sich angesichts des Theaters, das sie diesem Menschen vorspielte, zunehmend unwohl. Doch wie konnte sie ihre kleine Notlüge jetzt bereinigen? Würde er dann nicht sofort wieder auf Distanz gehen? Und sie wollte doch noch mehr hören.
»Damiáns Familie ist hier seit Generationen verwurzelt, was bei einem so jungen Land wie Argentinien so viel bedeutet, als ob Sie von Abraham oder den Kelten abstammen. Alsinas gibt es hier wie Mate-Kraut.«
»Ja«, unterbrach sie ihn, »ich habe im Telefonbuch nachgeschaut. Der Name ist ziemlich häufig.«
»Fernando Alsina ist seit den Wahlen Staatssekretär für Wirtschaftsfragen. Wenn Sie die Zeitung aufschlagen, finden Sie wahrscheinlich hier und da ein Foto von ihm. Ihm ist so ziemlich alles im Leben gelungen, bis auf seinen Sohn … Sie verzeihen, das ist etwas unbeholfen ausgedrückt.«
»Nein, nein«, sagte Giulietta beschwichtigend, »ich verstehe schon, wie Sie das meinen. Damián hat seine Familie durch seine Berufswahl und den Schulabbruch wahrscheinlich sehr enttäuscht. Er hat mir nie etwas davon geschrieben.«
»Ist es sehr indiskret zu fragen, worüber er geschrieben hat?«
»Nein. Ich meine, was schreibt man sich schon in solchen Brieffreundschaften?«
»Ich wusste gar nicht, dass im Zeitalter von E-Mail noch Brieffreundschaften entstehen«, sagte Ortmann und holte die Wasserflasche wieder aus dem Kühlschrank.
»Ja, vermutlich wird das allmählich selten.« Sie würde jetzt gehen müssen. Jeden Moment würde sie sich verraten. Aber Ortmann schenkte ihr das Glas voll und machte keine Anstalten, die Unterhaltung zu beenden.
»Die Alsinas wohnen im Barrio de Pilar. Das ist ein Villenvorort von Buenos Aires, schwierig zu erreichen. Aber sie haben natürlich auch eine Wohnung in der Stadt, in Palermo. Das ist nicht weit von Ihrem Hotel entfernt. Ich habe Ihnen beide Telefonnummern aufgeschrieben. Ich hoffe, sie stimmen noch, denn nach den Wahlen hat Herr Alsina sicher Personenschutz und vielleicht auch neue Telefonnummern bekommen.«
Giulietta unterbrach ihn. »Es ist nicht so wichtig. Wirklich. Ich werde anrufen und …«
»Vielleicht sollte ich das für Sie tun?«
»Das ist nicht notwendig. Ich habe Sie schon genügend belästigt.«
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