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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Ein junger Mann kam auf sie zu. Doch bevor er sie erreichte, trat plötzlich Nieves dazwischen und führte ihn mit einer anderen Frau zusammen. Giulietta trat verunsichert an den Rand der Tanzfläche zurück und schaute zu, wie Nieves allmählich die Paare bildete. Als alle versorgt waren, stand Giulietta als Einzige allein. Die Paare begannen zu tanzen. Giulietta setzte sich und wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Sie faltete nervös die Hände und atmete tief. Das Sodbrennen wurde wieder schlimmer. Ihre Schläfen pochten. Sie schluckte und starrte ratlos auf das Parkett. Dann stand plötzlich Nieves vor ihr und streckte ihr die Hand entgegen.
    »On danse?«
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog sie Giulietta behutsam hoch, ergriff ihre rechte Hand, legte Giuliettas Arm auf ihre Schulter und umfasste ihre Taille. Die plötzliche Nähe brachte sie noch mehr durcheinander. Der Duft von ihrem Parfüm stieg ihr in die Nase. Sie spürte die sanfte, aber zugleich feste Berührung von Nieves’ rechter Hand auf ihrem Rücken. Giulietta schaute instinktiv nach unten, aber Nieves reagierte sofort: »Nicht nach unten schauen. Mehr ins plié.«
    Giulietta hob den Kopf. Sie war größer als Nieves, aber dennoch hatte sie das Gefühl, die Frau blicke auf sie herab.
    »Bei fünf kreuzen«, sagte sie plötzlich.
    »Ah …?«
    Nieves hielt in der Bewegung inne und begann noch einmal von vorne.
    »Im Tango gibt es acht Positionen. Schau, bei eins stehst du parallel, zwei ist zur Seite, drei nach hinten. Bei fünf kreuzen. Sechs bis acht schließen. So.«
    Sie tanzten die Positionen ein paarmal hintereinander, dann erklärte Nieves ihr die eben gezeigte Figur und an welchen Positionen die Schrittfolgen ansetzten. Nach einigen Versuchen glückte die Bewegung halbwegs. Nieves’ Führung war eine Mischung aus sanften Signalen ihrer Hand auf Giuliettas Rücken und einer unsichtbaren Kraft, die ihr Oberkörper ausstrahlte. Außerdem spürte sie immer wieder kurze Berührungen an ihren Beinen, die ihr eindeutige Richtungssignale gaben. Einmal zauderte Giulietta kurz, unterbrach die Bewegung und stieß gegen Nieves. Dabei streiften sich ihre Wangen. Als die Musik zu Ende war, ließ Nieves sie plötzlich los. Giulietta war verwirrt. Sie lächelte unsicher. Nieves betrachtete sie kühl.
    Dann sagte sie: »Tango liegt dir nicht.«
    Der Ton ihrer Stimme war hart und abweisend. Giulietta wich ein wenig zurück, erwiderte jedoch nichts.
    »Warum bist du gekommen? Willst du eine Entschuldigung? Die Ohrfeige galt Damián. Du warst im Weg.« Sie sagte das ohne eine Spur von Bedauern.
    Erst jetzt begriff Giulietta allmählich, was hier geschah. Es war vergeblich. Mein Gott. Wie dumm sie gewesen war. Es war eine Mischung aus Trotz und Verzweiflung, die den Satz über ihre Lippen kommen ließ.
    »Kannst du mir bitte sagen, wo ich ihn finden kann. Ich muss ihn sprechen.«
    Nieves’ Gesichtsausdruck wurde feindselig. Das nächste Stück begann. Die anderen Paare hatten ihre Übung unterbrochen und schauten zu ihnen herüber. Nieves machte ihnen ein Zeichen, weiterzutanzen. Dann ergriff sie Giulietta barsch am Arm und zog sie an den Rand der Tanzfläche. Einen Augenblick lang fürchtete Giulietta ernsthaft, sie würde wieder handgreiflich werden. Aber Nieves ließ sie sogleich los und gewann ihre Beherrschung zurück.
    »Damián ist mir scheißegal«, sagte sie gepresst. »Du brauchst dir nichts einzubilden. Wie lange hat er’s bei dir ausgehalten? Drei Wochen? Vier? Er steigt auf alles drauf, das so aussieht wie du.«
    Giulietta schloss kurz die Augen. Dann setzte sie sich und begann ihre Schuhe auszuziehen. Nieves schaute nervös um sich und bemerkte die neugierigen und irritierten Blicke der anderen. Sie konnten nicht gehört haben, was sie gesagt hatte. Aber sie hatten Giuliettas Reaktion gesehen. Nieves setzte sich neben sie. »Meinst du, ich bin eifersüchtig auf seine Bettgeschichten? Da hätte ich ja viel zu tun.«
    Giulietta schwieg und zog ihre Straßenschuhe an. Dann erhob sie sich, doch Nieves versperrte ihr den Weg. »Weißt du überhaupt, mit wem du es zu tun hast?«, flüsterte sie. »Damián ist nicht normal. Er ist krank. Verstehst du. Krank.«
    »Ich weiß.«
    »Was weißt du? Du weißt gar nichts.«
    »Ich möchte jetzt bitte gehen.«
    Nieves starrte sie an, machte jedoch keine Anstalten, sie vorbeizulassen. Giulietta sah ihr jetzt direkt in die Augen. Wenn hier jemand krank war, dann diese Frau. Nein, alles war krank hier. Nieves.

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