Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Damián erschien nicht. Nieves unterrichtete allein und begann die Stunde ohne einen Partner. Sie klatschte in die Hände, und alle Anwesenden stellten sich in zwei Reihen vor ihr auf. Giulietta überlegte fieberhaft, was sie nun tun sollte, doch es gab jetzt kein Zurück mehr. Nieves hatte sie gesehen und vollständig ignoriert. Das Spiel war eröffnet. Giulietta erhob sich und suchte sich einen freien Platz in der hinteren Reihe. Dann trafen sich ihre Augen. Kurz nur, aber ohne Mehrdeutigkeiten. Sie hielten beide den Blick einige Sekunden lang aufeinander gerichtet und schauten dann fast gleichzeitig weg. Nieves hob den Arm, schnippte mit den Fingern einen Takt, drehte sich dann um und gab eine einfache Schrittfolge vor. Die Gruppe setzte sich in Bewegung.
Giulietta hatte keinerlei Mühe, zu folgen. Sie schaute zunächst so wenig wie möglich auf Nieves und orientierte sich im Wandspiegel an den anderen Frauen. Die Musik war stark rhythmisiert, und Giulietta bemerkte schnell, dass es in der Übung offensichtlich darum ging, zwischen Melodie- und Rhythmuslinie unterscheiden zu lernen. Die Bewegungen dazu erfolgten zunächst auf der Stelle, dann gab Nieves jeweils zwei Seitwärtsschritte nach links und rechts vor, und die Übung wurde allmählich komplexer. Die meisten Kursteilnehmer gerieten zunehmend aus dem Takt. Nieves betrachtete geringschätzig die Bemühungen der Kursbesucher und signalisierte durch markanter werdendes Schnippen mit den Fingern die für Ungeübte nur schwer hörbaren unterschiedlichen Rhythmen.
Dann drehte sie sich um, ging durch die Reihen und begann zu korrigieren. Die Musik spielte, der Saal war erfüllt vom Getrappel der aufsetzenden Schuhe, die Gruppe der Tänzer wogte mehr oder minder einheitlich hin und her, und dazwischen bog Nieves einen Arm gerade, zog ein paar Schultern hoch oder half jemandem, den Takt zu finden. Als sie an Giulietta vorbeikam, blieb sie kurz stehen und vermaß sie ausdruckslos von oben bis unten.
Giulietta fühlte sich an die schlimmsten Augenblicke ihrer Ballett-Ausbildung erinnert. Gegen ihren Willen wanderte ihre Aufmerksamkeit immer öfter zu Nieves. Je länger diese Aufwärmübung dauerte, desto tiefer fühlte sie sich durch die Situation erniedrigt. Jeder Blick, den Nieves ihr zuwarf, wirkte wie Spott und Hohn. Was um alles in der Welt war ihr bloß eingefallen, hierher zu kommen? Wer war sie denn? Eine von Damiáns schnellen Eroberungen, die nicht begreifen wollte, dass sie nur eine kurze Nummer für ihn gewesen war. Mein Gott, und sie flog ihm sogar noch hinterher und war sich nicht zu schade, vor Nieves’ Augen herumzuturnen, um den durchgebrannten Liebhaber wieder zu finden. Giulietta schluckte mehrfach, ohne ihre Konzentration zu unterbrechen. Magensäure brannte in ihrer Kehle. Aber das kannte sie alles. Nieves war im Grunde nur eine abstrakte Idee: sie war die Ballett-Lehrerin, die sie wochenlang fertig machte. Sie war das gnadenlose Publikum, die tausend Augen, die begierig auf den ersten Fehler, die erste Schwäche warteten. Sie war die Verkörperung der anderen Tänzerinnen eines jeglichen Ensembles, der Neiderinnen, der Konkurrenz. Und sie war nichts Geringeres und nichts Banaleres als der schlimmste Feind eines jeden Menschen, der etwas will: Angst. Angst vor dem Versagen, dem Irrtum, dem Scheitern. Aber nicht für sie. Nicht Giulietta! Was immer geschah: sie würde weitermachen! Sie würde Damián finden, und sei es nur, um ihm noch ein einziges Mal ins Gesicht zu schauen.
Als die Aufwärmübung nach einer halben Stunde vorüber war, winkte Nieves ein junges Mädchen heran und begann, eine recht komplizierte Schrittfolge mit ihr zu tanzen. Sie wiederholte die Sequenz mehrfach und zerlegte die Bewegung dann in ihre einzelnen Elemente. Dann erklärte sie den Männern, wie die Figur zu führen war. Nieves den Männerpart tanzen zu sehen, war eine Augenweide. Giulietta sah ihre Abneigung dieser Frau gegenüber mehr und mehr dahinschwinden. Nieves hatte sie geohrfeigt. Diese Frau hasste sie. Aber Giulietta fühlte sich zunehmend von ihr eingenommen. Sie wollte Nieves nicht zur Feindin haben. Diese Frau besaß eine besondere Ausdruckskraft, die über ihre technischen Fähigkeiten weit hinausging. Nieves verfügte über etwas Absolutes, das ihr selbst noch fehlte. Giulietta konnte gar nicht anders, als diese Absolutheit zu respektieren und verstohlen zu bewundern.
Die Musik setzte wieder ein, und es bildeten sich Paare. Giulietta schaute sich um.
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