Drei Minuten mit der Wirklichkeit
spärlich von Männern und Frauen unterschiedlichsten Alters besetzt. Manche zogen gerade ihre Tanzschuhe an, andere warteten bereits fertig umgezogen auf den Beginn der Stunde. Bis auf zwei Pärchen saßen alle allein auf ihren Stühlen und wahrten dabei deutlichen Abstand voneinander. Giulietta setzte sich ans äußerste Ende der linken Stuhlreihe und begann, ihre Straßenschuhe gegen hochhackige Pumps auszutauschen. Allmählich kamen noch mehr Leute, und es bildeten sich kleine Grüppchen. Giulietta hörte französische und amerikanische Gesprächsfetzen, und zu ihrem Erstaunen sprach auch jemand Deutsch: ein unbeholfen aussehender bärtiger Mann mit einem karierten Flanellhemd, viel zu engen Jeans und auffallenden, blitzblank polierten Tango-Stiefeln. Soeben erklärte er einer kleinen rothaarigen Frau neben ihm: »… das musst du hier spüren. Sonst geht das nicht. Nicht mit den Händen führen, sondern mit der Brust.« Dabei schlug er sich mit der Innenfläche seiner linken Hand ans Brustbein und deutete eine nicht besonders tänzerische Bewegung mit dem Oberkörper an.
Nieves war nirgends zu sehen.
Am Ende des Raumes saß eine ältere Frau an einem kleinen Tisch. Sie drehte an den Knöpfen eines Kassettenrecorders herum. Bei ihr bezahlte man offenbar die fünf Pesos Kursgebühr. Giulietta tat es den anderen gleich, ging zu ihr hin und reichte ihr das Geld. Die Frau musterte sie freundlich und wechselte mühelos ins Französische, als sie bemerkte, dass Giulietta kein Spanisch verstand: »Je suis Marta. Bist du das erste Mal hier?«
»Ja.« Sie nannte ihren Namen.
»C’est beau. Italiana?«
»Nein. Aber aus Europa.«
»Ah. Bist du allein oder hast du einen Partner?«
»Ich bin allein. Aber eigentlich wollte ich erst einmal zuschauen.«
»Das geht nicht, mi amor. Aber setz dich nur wieder. Es kommt schon jemand für dich.«
Damit wandte sie sich wieder dem Gerät und seinen zahlreichen Knöpfen und Schaltern zu. Giulietta nahm wieder Platz. Marta fand endlich die richtige Taste, und die Musik begann zu spielen. Der deutschsprachige Mann mit den auffallenden Schuhen war einer der Ersten, der sich mit seiner rothaarigen Partnerin auf dem Parkett in Pose brachte und loslegte. Der Anblick beruhigte Giulietta. Erstens gehörten die beiden offensichtlich zusammen. Und zweitens würde sie sich hier zumindest tänzerisch nicht lächerlich machen. Sie erinnerte sich zwar nicht mehr so richtig an den Grundschritt, den ihr Damián ja einmal gezeigt hatte, aber selbst im Vollrausch und mit Reißnägeln in den Schuhen würde sie nicht so aussehen wie diese beiden dort. Die anderen Paare, die nun allmählich auf die Tanzfläche gingen, tanzten einfach und ruhig. Die restlichen Teilnehmer blieben sitzen und schienen es vorzuziehen, auf den Beginn des Kurses zu warten.
Dann erschien Nieves. Giulietta richtete sich unwillkürlich auf, als sie den Raum betrat. Die Argentinierin entdeckte sie sofort, verzog jedoch keine Miene. Sie ging, hier und da ein Küsschen verteilend, auf den Tisch am Ende des Raumes zu. Sie war offenbar schon im Gebäude gewesen. Sie hielt einen Plausch mit Marta, warf manchmal einen flüchtigen Blick auf die tanzenden Kursbesucher und schaute dabei kein einziges Mal in Giuliettas Richtung.
Plötzlich durchfuhr Giulietta der Gedanke, dass Damián hier auftauchen könnte. Außerdem war sie sich auf einmal fast sicher, den größten Teil der Erklärung für Damiáns eigenartiges Verhalten direkt vor sich zu sehen. Sie spürte noch immer eine massive Abneigung gegenüber Nieves, aber sie war zweifellos eine hervorragende und außerdem bildschöne Tänzerin. Damián musste verrückt sein, die Arbeit mit ihr aufzugeben. Vielleicht hatte er mit ihr in Berlin nur einen privaten Streit ausgefochten, aber sie im Grunde nie verlassen wollen. Die beiden waren auf einer ganz anderen Ebene miteinander verbunden, als sie es jemals sein könnte: durch ihre Kunst und ihre gemeinsame Kultur. Giulietta wäre hier immer nur ein Fremdling. Damián hatte sie nur benutzt, um sich von etwas zu befreien, dessen er kurzfristig überdrüssig gewesen war. Aber im Grunde gehörte er zu Nieves, zu dieser Frau dort, die den Kopf nach hinten warf, ihre schönen Beine durchdrückte und lässig ihren attraktiven Körper unter ihrem hautengen schwarzen Kleid zur Geltung brachte, ohne auch nur einen Augenblick lang den Eindruck entstehen zu lassen, es interessiere sie nicht im Geringsten, ob ihr dabei jemand zuschaute.
Aber
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