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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sprechen. Und Lindsey war nicht da. Pablo, ein junger, gut aussehender Bursche, von dem sie bereits durch Lindsey wusste, dass er die Zimmer dieses Hauses wochenweise an Tango-Touristen untervermietete, bestand jedoch darauf, sie möge hereinkommen und wenigstens einen Mate trinken. Es sei doch viel zu heiß, um draußen in der Stadt herumzulaufen.
    Sie nahm das Angebot an, bat jedoch statt Mate um einen Saft. Vielleicht würde Lindsey ja gleich zurückkommen? Pablo wusste nicht, wo sie war. Er wusste nie, wo seine Mieter sich herumtrieben. Sie schliefen üblicherweise bis mittags um zwölf. Dann frühstückten sie bis um zwei und übten anschließend im Garten ihre neu gelernten Tango-Schritte. Danach besuchten sie ihre Kurse, fuhren dann in diese oder jene
practica
, gingen Abendessen und tauchten kurz nach Mitternacht in der jeweils aktuellen
milonga
auf. Vor fünf Uhr morgens kamen sie nie zurück. Warum heute alle schon um drei verschwunden waren, wusste er nicht.
    »Tanzt du auch Tango?«, fragte er sie.
    Giulietta schüttelte den Kopf und trank ihr Glas Apfelsaft leer, das Pablo ihr hingestellt hatte. »Nein. Überhaupt nicht. Ich mache hier Urlaub.«
    Pablo schaute sie skeptisch an, verfolgte die Frage jedoch nicht weiter.
    »Und du bist aus Berlin. Hat Lindsey mir erzählt.«
    »Ja. Du hast hier Gäste aus der ganzen Welt, oder?«
    Pablo grinste. »
Tango sells
. Japan. USA . Holland. Deutschland. Türkei. Israel. Was noch fehlt, sind Eskimos und Vietnamesen. Aber das kommt auch noch. Ich muss bald anbauen.«
    »Japan? Tango? Verrückt!«
    »Ja. Völlig verrückt. Aber soll dort sehr populär sein. Noch ein Schluck?«
    Er goss ihr nach, ohne die Antwort abzuwarten.
    »Und du, auch ein
Tanguero

    »Do you think I’m crazy?« Er prustete los.
    Sie schaute ihn an und dachte: No. Maybe not you. But everybody else.
    Pablo war blond. Er hatte ein hübsches Gesicht, aber das Schönste an ihm war, dass er ihr keinerlei Avancen machte. Er war nur freundlich zu ihr, ohne das geringste Anzeichen von irgendwelchen Hintergedanken. Nach dem sexuellen Dauerfeuer der letzten Tage auf den Straßen von Buenos Aires machte sie das fast ein wenig misstrauisch. Vielleicht hatte er eine ähnliche Orientierung wie Lindsey.
    Sie plauderten eine Weile. Dann klingelte das Telefon. Pablo ging dran und begann ein Gespräch auf Spanisch. Giulietta hörte, dass ihr Name fiel. Dann reichte Pablo ihr den Hörer.
    »Giulietta?«
    Es war Lindseys Stimme.
    »Toll, dass du gekommen bist. Ich bin in einer Stunde da. Pablo soll dir mein Zimmer aufschließen. Du musst das sehen. Die Kassette ist noch im Videorecorder. Du hast da etwas Sagenhaftes entdeckt, weißt du das?«
    »Lindsey, ich fliege nach Hause. Ich werde morgen umbuchen.«
    Es wurde kurz still in der Leitung.
    »Warte bitte auf mich, ja? Ich muss unbedingt mit dir reden. Und es tut mir Leid wegen gestern. Du bist nur so … zum Anbeißen eben. Ich war betrunken. Wird nicht mehr vorkommen, okay? Ehrenwort. Aber bitte warte auf mich. Versprochen? Gibst du mir noch mal Pablo?«
    Fünf Minuten später stand sie allein in Lindseys Zimmer. Warum sie es überhaupt abschloss? Man hätte einen Metalldetektor gebraucht, um hier Wertsachen zu finden. Sie balancierte über Kissen, CD -Hüllen, Zeitschriften, überquellende Aschenbecher und zerknitterte Kleidungsstücke hinweg auf das Fernsehgerät zu und drückte auf den Einschaltknopf. Dann suchte sie eine gute Weile die Fernbedienung und fand sie schließlich hinter der Matratze. Das Zählwerk des Recorders stand bei 87 Minuten, und sie spulte aufs Geratewohl zurück. Bei 40 schaltete sie auf
play
und drückte
fast forward
. Szenen aus Tanzlokalen flimmerten vorüber. Einige Sequenzen waren in der Confitería Ideal aufgenommen. Die anderen Orte kannte sie nicht. Dann gab es einen kurzen Bildausfall, und bei Minute 57 begann eine Kamerafahrt durch einen großen, hellen Raum, der wie ein Tanzsaal des Barock aussah. Sie drückte auf
play
, und die Wiedergabe wurde normal. Die Kamera schlich durch den Raum und erfasste eine Person. Giulietta kniff angewidert die Augen zusammen. Es war Nieves. Sie stand vor einem großen Bogenfenster, hatte ein Bein hochgezogen und nestelte an den Lederriemen ihrer Schuhe herum. Ein wackliger Kameraschwenk brachte Damián ins Bild. Er strich sich gerade mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht und band sie mit einem Gummiband hinter seinem Kopf fest. Er wirkte älter als auf dem Band, das sie gestern Abend

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