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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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gesehen hatte. Damián schaute hoch und blickte direkt in die Kamera. Giulietta drückte auf
pause
und ging vor dem Gerät in die Hocke. Warum tust du das?, fragte sie sich. Warum schaust du dir das noch an? Ich fliege morgen. Ich kann nicht mehr.
    Sie strich mit ihrem Finger über die Mattscheibe, wo sie eine feine Spur im Staub hinterließ, hinter der Damiáns grobkörniges Bild klarer durchschien. Dann griff sie nach einem benutzten T-Shirt, das am Boden lag, und reinigte das Glas vollständig. Die dunkelblonden, flaumigen Härchen auf ihrem Unterarm richteten sich auf. Es knisterte. Sie drückte wieder auf
play
. Damián lächelte sie an, und die elektrische Ladung schien nun unter ihrer Haut entlangzufließen. Ihr Blick wanderte auf die Hülle der Kassette, die auf dem Fernsehgerät lag: März 1997. Die andere Aufnahme war von 1995 gewesen. Zwei Jahre. Er war gereift.
    Ihr Mund wurde trocken, als sie die beiden tanzen sah. Sie suchte nach dem Lautstärkeregler. Doch als sie ihn gefunden und hochgedreht hatte, hörte sie nur Rauschen. Was für ein Schwachkopf filmte Tanz ohne Ton? Die Choreografie war diesmal aus einem Guss. Es gab keine Unterbrechung. Falls hier auch irgendwelche Brüche oder Besonderheiten enthalten waren, so konnte Giulietta das nicht feststellen. Der einzige Indikator wäre vielleicht Nieves’ Gesicht gewesen. Manchmal verzog sie den Mund oder runzelte die Stirn. Aber vielleicht war dies nur Ausdruck ihrer Konzentration. Außerdem konnte Giulietta dieses Gesicht nicht mehr ertragen. Die Nummer endete auf eine spektakuläre Schlussfigur. Nieves ging vor Damián in die Knie und gefror in einer sowohl unterwürfigen wie auch schamhaften Pose. Sie schaute zur Seite weg und wirkte plötzlich so zerbrechlich und sensibel wie ein junges Mädchen. Giulietta drückte wütend auf
stop
. Zum Kotzen, diese Fassade.
    Sie stand auf, und dabei entdeckte sie einen Stapel vollgekritzelter Papierbögen auf Lindseys Schreibtisch. Ihre Weingläser von gestern Abend standen daneben, das von Giulietta noch immer halb gefüllt. Sie nahm die Bögen zur Hand und blätterte darin. Das wollte sie ihr also zeigen. Sie las die untereinander geschriebenen Wörter. Manchmal waren es vier oder fünf, einmal sogar acht, ein anderes Mal nur drei. Lindsey hatte letzte Nacht offenbar noch eine ganze Weile lang Videomitschnitte analysiert. Die ersten Buchstaben der untereinander geschriebenen Worte waren eingerahmt, aber die Buchstabenfolge ergab meist nur rätselhafte Kombinationen. Enrosque. Sentada. Molinete. Americana. Giulietta setzte die Anfangsbuchstaben zusammen. ESMA ? Eine andere Wortgruppe ergab LAPIZ . Schon wieder. Aber
lapiz
war doch selbst eine Figur? Enrosque. Sacada. Medialuna. Abanico. Noch einmal ESMA ?
    Auf dem nächsten Blatt fand sie eine ganze Reihe Wortgruppen, die überhaupt keine Bedeutung ergaben. Lindsey hatte offenbar herumgerätselt. Überall Streichungen, Umstellungen und jede Menge sinnlose Kürzel. ORV . IKSIY . PYENSTE . Giulietta schaute ratlos auf die Zeichen und Striche. Mein Gott, sie hatte anscheinend in Lindsey die Wissenschaftlerin geweckt. Damiáns Ticks mussten ihr den Schlaf geraubt haben. Giulietta blätterte um, und der Anblick der Seite verschlug ihr den Atem: überall Zahlen. Sie waren in Spalten untereinander gesetzt. Am Rand des Blattes entdeckte sie Notizen, die Lindsey in aller Eile hingekritzelt hatte.
Système séquentiel
, las sie. Daneben stand:
Système additionnel
. Giulietta wurde nicht schlau aus dem Wirrwarr von Zahlen und Zeichen, aber offensichtlich hatte die Kanadierin aus dem ganzen Zahlensalat Begriffe abgeleitet. 21-2-25-2-16-28-13-26-2, las sie. Daneben stand:
paraluisa
. Drei Ausrufungszeichen.
    Sie ließ die Blätter sinken und schaute auf die von Bildern und Fotos übersäten Wände. Lindsey war unordentlich und chaotisch. Aber das lag wohl daran, dass ihr ständig so viele Dinge im Kopf herumgingen. Ihre Außenwelt konnte mit ihrer Innenwelt nicht Schritt halten. Dieses Zimmer sah aus wie die direkte Fortsetzung ihrer von krausen Gedanken überquellenden Seele. Sie hatte Damiáns Code gesucht. Aber hatte sie ihn auch gefunden? Giulietta schaute erneut auf die Zahlenreihen. Wie funktionierte das alles bloß? Wie hatte Lindsey das nur fertig gebracht? Entsprachen die Zahlen Buchstaben des Alphabets? Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und setzte die erste Zahlenreihe in Buchstaben um. Aber sie kam nicht weit. Der einundzwanzigste Buchstabe des

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