Drei Wunder (German Edition)
bräuchte nicht mitzukommen, aber es wurde immer schwieriger für sie, stets die richtige Rolle zu spielen, auch ohne einen geschwätzigen Geist an ihrer Seite. Schließlich war der Grund, weshalb Olivia überhaupt in dieser Vizevorstand-Sache gelandet war, dass sie Violet zum Schweigen hatte ermahnen wollen.
»Ich habe schon verstanden«, sagte Violet und starrte auf den Boden. Olivia drückte einen Klecks Feuchtigkeitscreme in ihre Handfläche. »Es ist ja nicht so, dass ich dich nicht dabei haben möchte«, versicherte sie. »Es ist nur …«
»Ich sagte doch, ich habe verstanden«, sagte Violet, stemmte sich hoch und ging zurück zum Fenster. »Aber bist du sicher, es ist eine gute Idee, so viel Zeit mit Calla zu verbringen? Jetzt, wo es mit Soren …« Sie brach ab.
Olivia hielt inne, eine Hand an dem noch trockenen Ellbogen. » Du hast doch gesagt, ich soll Soren einladen …«
»Ich weiß, ich weiß«, gab Violet zu. »Aber das war, bevor du angefangen hast, jeden Tag etwas mit Calla zu unternehmen.«
»Ich unternehme nicht jeden Tag etwas mit ihr«, entgegnete Olivia. »Aber was soll ich denn auch machen? Die Vorstandssache aufgeben? Soren nicht mehr treffen?«
»Ich habe auch nicht alle Antworten für dich, O. Ich versuche nur, dir zu helfen«, erwiderte Violet patzig und wandte den Blick ab. Sie zog die Beine an die Brust, ihre blassen Arme sahen aus wie zerbrechliche Zweige, die um ihre knochigen Knie geschlungen waren.
Der Anblick erinnerte Olivia an das kleine Mädchen, dem sie früher immer zugesehen hatte, wenn es auf den alten Eichenbaum im Garten kletterte. Violet war stets ein wenig zu hoch geklettert und kam dann auf den höchsten Ästen nicht mehr weiter, während Olivia vom Boden aus Anweisungen nach oben rief. Komm runter! , hatte sie dann meist gedrängt, mit einem Fuß aufgestampft und die Arme vor der Brust verschränkt.
Olivia schraubte den Verschluss wieder auf ihre Creme und legte sie zurück auf ihre Kommode. Sie setzte sich aufs Bett, zog ihre Stiefel aus und stellte sie vor die Wand.
»Was machst du denn?«, fragte Violet. »Bist du nicht sowieso schon zu spät dran?«
Olivia zuckte mit den Schultern, als sie die Beine verschränkte und sich gegen das Kopfteil lehnte. »Calla kann die Musik auch ohne mich aussuchen«, sagte sie leise. »Und außerdem bin ich lieber mit dir zusammen.«
Violet lachte plötzlich auf. »O nein«, rief sie vom Fenster aus, »nicht die Mitleidsnummer.«
»Das ist kein Mitleid«, versicherte Olivia. »Ich wäre wirklich lieber bei dir.«
Violet sah ihre Schwester lange an, bevor sie zu ihr aufs Bett kam.
»Tja, weißt du was?«, sagte sie leichthin. »Ich hätte lieber den Nachmittag frei. Was hältst du davon?«
Olivia musterte ihre Schwester eingehend. »Bist du sicher?«
»Sicher bin ich sicher«, erwiderte Violet. »Du kannst nicht den ganzen Tag mit einem Geist verbringen. Und ehrlich gesagt, hast du eigentlich gar keine andere Wahl. Du musst hingehen. Du bist ein Vizevorstand, und das ist es, was Vizevorstände tun: Sie gehen hin und stehen vizemäßig vor.« Violet deutete auf Olivias Stiefel.
»Bist du sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, fragte Olivia.
»Bei dem Wetter in der Bude sitzen und mir den ganzen Nachmittag schlechten Party-Techno anhören?«, spottete sie. »Nein, danke.«
Olivia lächelte ihre Schwester dankbar an und stand vom Bett auf. Als sie die Schranktür schließen wollte, sah sie ihr Spiegelbild. Ihr Haar fiel in luftigen rotblonden Locken über ihre Schultern, ihre Haut sah frisch und seidig aus, und ausnahmsweise hasste sie die Sommersprossen auf ihrer Nase nicht.
»Du siehst sehr hübsch aus«, sagte Violet leise vom Bett aus. Und zum ersten Mal glaubte Olivia ihr.
***
»Ist das ein Mensch oder ein Roboter?«, fragte Eve. Eve, Lark und Calla saßen alle zusammen auf Callas riesigem Himmelbett und schauten einen Stoß von CDs durch und sortierten diejenigen mit komischen Namen oder absurden Coverfotos gleich aus.
»Vielleicht beides?«, meinte Calla mit erhobenen Augenbrauen und lächelte, als sie Olivia hereinkommen sah. »Da bist du ja!«
»Tut mir leid, dass ich zu spät komme«, entschuldigte Olivia sich und nahm auf einem Plüschsessel am Fenster Platz. Sie hoffte, dass man ihr das Erstaunen über ihre Umgebung nicht ansah. Sie war gerade eine riesige Marmortreppe hochgekommen. Callas Zimmer lag im zweiten Stock einer herrschaftlichen, mit Säulen verzierten viktorianischen Villa, die den
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