Drei Wunder zum Glück (German Edition)
diesen offenen Schnürsenkeln, was so furchtbar traurig und jung wirkte.
Sie richtete den Sucher darauf und machte das Foto. Jaime bewegte sich nicht. Hazel senkte die Kamera und setzte sich. Mit diesem einen Klick hatte sich etwas in ihr beruhigt. Sie konnte Jaime nicht zum Vorwurf machen, dass sie Angst hatte. Vielleicht war das Benutzen von Rosannas Namen ihre Art, sich selbst zu schützen. Oder sich so lange wie möglich von der Situation zu distanzieren.
Hazel konnte sich auf einmal vorstellen, selbst so zu handeln.
Es war schwierig, auf jemanden wütend zu sein, der so viel Angst hatte und so allein war.
Besonders wenn dieser Jemand die eigene Mutter werden sollte.
15
Über alledem hatte Hazel Rosannas Ausstellung am gleichen Abend völlig vergessen. Jaime hatte eine Nachmittagsschicht im Eiscafé, also war Hazel allein in den Shuttlebus nach Hause gestiegen und gerade rechtzeitig angekommen, um Luke und den anderen beim Beladen des Pick-ups zu helfen und zurück in die Stadt zu fahren.
Die Ausstellungseröffnung sollte in einem alten Hotel am Ende der Hauptstraße stattfinden, und Hazel, Maura und Craig verbrachten den größten Teil des Nachmittags damit, Gemälde in der Lobby und in den Fluren jedes Stockwerks aufzuhängen. Das Konzept sah so aus, dass die Besucher die Gänge entlang nach oben bis in die Dachlounge gehen sollten, die mit blinkenden weißen Lichtern und rosa Orchideen in jeder Ecke dekoriert war. Luke war für die Bar zuständig, während die restlichen Helfer Häppchen anboten.
Erst als Hazel und Jaime zum dritten Mal mit dem Serviceaufzug hinauffuhren, beladen mit Tabletts voller Shrimps-Toasts und Miniquiches, brachte Hazel es über sich, das Thema vom Vormittag anzusprechen.
»Wie geht es dir?«, fragte sie und starrte sich dabei selbst im verspiegelten Glas an. Ihr brauner Haaransatz war unübersehbar, und insgesamt sah ihr Haar ausgebleicht aus.
»Keine Ahnung«, antwortete Jaime. »Furchtbar. Angenervt. Wie gehabt.«
Hazel starrte auf die aufleuchtenden Nummern der Stockwerke, während sie nach oben fuhren.
»Hast du schon irgendwas in den Broschüren gelesen?«, fragte sie. Jaime hatte eigentlich das ganze Material aus der Klinik über Bord werfen wollen, als sie von der Fähre gingen, und Hazel hatte ihr das Versprechen abgenommen, sich das Ganze zumindest einmal durchzulesen.
»Alles von vorne bis hinten«, sagte Jaime, ihre Stimme klang aalglatt und gekünstelt. »Wusstest du, dass mein Baby bereits ungefähr die Größe einer Pistolenkugel hat?«
Hazel merkte, dass sich ein Kloß in ihrem Hals bildete und ihre Knie wacklig wurden. Unmöglich konnte sie ihre Rolle so weiterspielen. Eine Pistolenkugel? Das war sie , da drin. Wie sollte sie sich normal verhalten können, wenn sie gerade so was wie eine Science-Fiction-Soap erlebte?
»Cool«, brachte Hazel heraus, allerdings ziemlich zittrig, und es hörte sich irgendwie so an, als müsste sie sich gleich übergeben.
»Total«, erwiderte Jaime trocken, und der Aufzug hielt an. Die Türen wollten sich gerade öffnen, doch Jaime drückte mit dem Daumen auf einen Knopf, um sie geschlossen zu halten.
»Hör mal«, sagte sie und wurde plötzlich ernst, während sie Hazel in die Augen sah. »Ich habe nicht vor, irgendjemandem davon zu erzählen, bis ich, du weißt schon, mehr darüber nachgedacht habe. Was bedeutet, dass du es auch niemandem erzählst. Verstanden?«
Hazel nickte sofort. »Natürlich«, sagte sie. »Verstanden.«
»Gut«, seufzte Jaime. Einen Augenblick lang waren ihre dunklen Augen sanft, und Hazel konnte fast ihr eigenes Spiegelbild darin sehen.
Die Türen öffneten sich und gaben den Blick frei auf die von purpurfarbenen Streifen durchzogene Abenddämmerung am Himmel. Hazel machte einen Schritt nach draußen, aber Jaime hielt sie am Ellbogen fest. »Warte«, rief sie barsch und zog Hazel zurück in den Aufzug. »Nur noch eines.«
Hazel drehte sich um und wechselte das schwere Tablett von einer Hand in die andere. »Was?«, flüsterte sie und blickte schnell von den versammelten Gästen zurück zu Jaime.
Jaime holte tief Luft und schüttelte ein paar Locken aus ihrem Gesicht.
»Nur danke«, sagte sie so leise, dass es kaum zu hören war. »Für heute, okay?«
Dann drängte sie sich an Hazel vorbei und ging zielstrebig zwischen den Grüppchen von Frauen in Leinenkleidern und Männern in Sommeranzügen hindurch.
Hazel folgte Jaime durch die Menge und blieb immer wieder stehen, um allen Leuten, die
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