Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
Verkäuferin, die das ja verdammt noch einmal nichts angeht, wie sich ihre Kunden fühlen, sondern eine alte Vertraute.
Die Frau hinter den Zeitungsstapeln, die zum Teil noch mit Bindfaden verschnürt sind, nickt wissend. »Sie sind das erste Mal auf der Mazzesinsel, nicht wahr?«
»Mazzesinsel?«, fragt Leonie verwirrt, und die andere lacht. Es ist ein warmes, fröhliches Lachen.
»So nennen ’s halt hier in Wien den Zweiten Bezirk, die Leopold stadt. Weil hier die Juden geradezu übereinanderhocken. Wegen der ungesäuerten Brot, die sie hier haufenweis zu Pessach backen und verzehrn. Gibt auch noch graulicher Namen hierfür. Als Beispiel: Rotznstadl.« Sie lacht wieder. »Wollten ’s zum Augarten, Hübsche, oder zum Prater?«
»Nein«, entgegnet Leonie und lächelt. »Ich wollte zur Mazzesinsel.«Sie muss sich den Schweiß von der Oberlippe wischen, bei der Hitze hier.
Die Verkäuferin bemerkt es. »Ohne den Mantel wär’s vielleicht besser«, sagt sie und deutet auf Leonies französische Regenhaut. »Sie sind net von hier?!«
»Nein«, sagt Leonie und schält sich aus dem Mantel, was ja Unfug ist, denn eigentlich will sie ja hier nicht länger bleiben. (Trotzdem nimmt sie auch gleich noch ihre Lederkappe ab.) »Ich komme aus Deutschland, aus Berlin.«
»Gibt’s da auch eine Mazzesinsel?«
»Ja. Aber die heißt Scheunenviertel.« Der Kaffeeduft macht sie ganz begierig. Sie gibt sich einen Ruck. »Entschuldigen Sie, es klingt vielleicht komisch. Aber könnten Sie mir wohl eine Tasse Kaffee verkaufen? In diese Cafés – also, ich war in einem, aber ich trau mich nicht wirklich rein.«
»Versteh ich.« Die Frau mustert sie mit der immer gleichen Miene von Spott und Freundlichkeit. »Kaffee verkauf ich nicht, ich handel mit Tabak und Journalen. Aber Sie können’s sich verdienen. Kommen Sie, kommen ’s hinter den Tresen!«
Sie schiebt ein paar Stapel Bücher zur Seite, klappt einen Teil des Tisches hoch und macht auf diese Weise den Zugang zum hinteren Kiosk frei. Leonie zögert einen Moment – soll sie, soll sie nicht?, dann schlüpft sie nach drinnen, gerät damit in die Nähe des bullernden Kanonenofens, der höllische Hitze ausstrahlt, und bekommt in der winzigen, verkramten Ecke einen hölzernen Stuhl zugewiesen zwischen Zigarrenkisten, Pfeifengestellen und verstaubten Flaschen. Die Zeitungspakete bedecken den größten Teil des Fußbodens.
Der Kaffee steht in roter Emaillekanne auf dem eisernen Öfchen – klar, dass man heizen muss, damit er warm bleibt! –, und die Frau gießt ihr eine angeschlagene Tasse voll des duftenden Getränks und schaufelt ungefragt drei Löffel Zucker hinein; wahrscheinlich kann sie sich nicht vorstellen, dass man den Kaffee schwarz trinkt.
Vorsichtig, um sich nicht die Zunge zu verbrühen, schlürft Leoniedas Labsal. Sie fühlt sich wohl jetzt. Alles ist so wundervoll einfach, so ganz normal.
Ihre Gastgeberin beobachtet sie von der Seite und sie tut desgleichen und lächelt sie dankbar und ein bisschen verlegen an. Die Frau trägt über ihrem dunklen Kleid ein gestricktes Bolerojäckchen, an den Füßen derbe Männerschuhe. Ihr scheint überhaupt nicht heiß zu sein hier drin. Sicher ist sie’s eben so gewöhnt.
Neben ihrem Platz liegt, bei einer metallenen Kassette mit den Einnahmen, ein aufgeschlagenes Buch mit deutschen und hebräischen Schriftzeichen. Leonie reckt den Hals, kann aber nichts Näheres erkennen.
Die Frau wartet ab, bis Leonie die Kaffeetasse beiseitestellt und »Dankeschön!« sagt, dann reicht sie ihr einen Packen Zeitungen herüber und sagt: »Und jetzt die Bezahlung. Falten ’s die einmal schön ordentlich. So, wie ich’s Ihnen vormach.« Sie beginnt schwungvoll, eins der Blätter in jene längliche, handliche Form zu bringen, wie man sie unter dem Arm tragen kann, und legt es dann beiseite, verkaufsfertig. Amüsiert versucht Leonie, es ihr nachzumachen; es gelingt ihr gleich ganz gut, sie hat eben geschickte Hände. Das Blatt, das sie da in die richtige Form bringt, ist in hebräischen Lettern gedruckt. »Was ist das für eine Zeitung?«, fragt sie.
»Können ’s kein Ladino?«, kommt die Gegenfrage. (Als wenn es selbstverständlich wäre, dass sie eine Jüdin ist ...)
Ladino! Die Sprache Isabelles, die Sprache der Lieder, die in der Familie gesungen werden, die Sprache des Familienmottos ... »Ich bin zwar eine Sephardin«, sagt sie (Es ist das erste Mal, dass sie sich dazu bekennt, und es erfüllt sie mit einer seltsamen Mischung
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