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Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2

Titel: Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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aus Stolz und Verlegenheit ...), »aber ich kann keine hebräischen Buchstaben.«
    Die Trafikantin schüttelt den Kopf – was es alles gibt! – und sagt dann: »Das ist >La Boz de la Verdad<, >Die Stimme der Wahrheit<. Erscheint nur einmal die Woche. Die anderen Blätter gibt’s täglich. Und nicht nur in hebräischen Lettern. Viele Juden, diehier leben, lesen auch Deutsch.« Sie zeigt mit dem Kopf in verschiedene Ecken. »>Die Stimme‹; >Die Presse‹. Und sehr beliebt hier: >Das Tagblatt‹ und >Das Journal‹. Die können Sie ja dann lesen.«
    Es klingt herablassend und Leonie ärgert sich ein bisschen. »Wozu muss man die hebräischen Buchstaben eigentlich können?«, fragt sie und faltet die zehnte Zeitung. (Der Stapel, den ihr die Frau hingelegt hat, ist bald zu Ende.) »Als moderner Mensch ...«
    »Ja, falls Sie einmal nach Palästina auswandern wollen irgendwann, da wird’s wohl nicht ohne gehen. Nicht ohne die Buchstaben und nicht ohne die hebräische Sprache.« Die Ältere legt die flache Hand auf das aufgeschlagene Buch vor sich. »Hier, ich lern ja auch.«
    Leonie starrt sie an. Sie vergisst das Zeitungsfalten.
    »Sie wollen auswandern?«
    »Vielleicht bleibt einem ja nichts anders übrig«, sagt die Frau zwischen ihren Zeitungen. »Hier von der Mazzesinsel wollen’s viele.« Sie schiebt Leonie einen neuen Packen zu. »Falten ’s mir noch die >Kronen Zeitung‹, dann ist der Kaffee abgearbeitet.« Ihre Stimme ist freundlich.
    »Aber warum? Warum nach ... nach Palästina?«, fragt sie und merkt, dass es naiv klingt.
    »Könnte ja sein, hier ist kein Aushalten mehr!«, sagt die Frau. »Irgendwann.«
    Schweigend setzt Leonie ihre Arbeit fort. Die Vorstellung, dass jemand Europa verlassen will, nur weil er jüdisch ist, kommt ihr absurd vor. Palästina? Aber da hausen die Juden doch nun schon seit fast zweitausend Jahren nicht mehr ... Nur: Ist es absurder als Isabelles Golem?
    Die Frau mustert sie: »Wissen Sie, an wen ich denken muss all die Zeit, wenn ich Sie anschau?« Sie wartet die Antwort nicht ab.
    »Es gab vorzeiten a Maidl, an arms Ding, das hat hier bisweilen geholfen für a Schilling, das hat auch so a G’schau gehabt wie du. Später war’s fort. War weg aus Wien, a ganze Weile lang. Und nunsoll’s indes a Profession am Theater haben da draußen bei den Goien, die Nichtjuden.«
    »Meinen Sie vielleicht ... meine Tante. Felice Lascari?«, erwidert Leonie beklommen und verwundert
    Sie mustert Leonie nochmals, nickt. »Kaum zu übersehen«, sagt sie gelassen. »Wenn du sie triffst, grüße sie von der Hanna. Oder nein, lass es bleiben. Vielleicht möchte sie nicht gern erinnert werden an die dreckigen alten Zeiten.« Sie lächelt. »Nimm dir noch a ›Kronen Zeitung‹ mit, als Dank für die Arbeit.«
    Felice. Ich habe sie an Felice erinnert. Sie hat in dieser Trafik ausgeholfen, wie sollte es anders sein, wenn sie am Gewürzstand ihres Vaters nicht gebraucht wurde. Oder vielleicht danach, spät am Abend. Jeder Schilling war nötig.
    Ich wusste zwar, dass ich Isabelle ähnlich bin, aber dass ich auch so an Felice erinnere ... Vielleicht irgendeine Art, sich zu bewegen, den Kopf zu drehen. Die Wangenknochen, die Farbe der Haut – was weiß denn ich ...
    Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie hier durch die überfüllten engen schmutzigen Gassen geht, eine schlanke schöne Halbwüchsige, die Schultern gerade, das Kinn gereckt, und dieser Blick unter den halb gesenkten Lidern hervor, der Blick des Porträts im weinrot-violetten Salon, der Blick eines Mädchens, das herabsieht auf das alles um sie herum, eines Mädchens, das entkommen will – so wie sie alle hier entkommen wollen.
    Felice »hat halt gelebt«. Überlebt. Bis sie Glück hatte. Aber wer von den Armen hier wird Glück haben, »Massel«, so wie sie und ich?
    Ich wische mir mit beiden Handballen über die Wangen.
    Irgendeine Turmuhr schlägt. Ich habe die Lektion bei Felice versäumt. Das wird sie mir bestimmt übel nehmen. Gut, damit muss ich leben.
    Als ich wieder im »normalen« Teil der Stadt bin, jenseits der Brücke, mich zur Rotenturmstraße vorarbeite, von wo man zum Stephansdom und zur Kärtnerstraße gelangt, dem Herzstück desnoblen Wien, komme ich an einem Hotel vorbei, das genauso gebaut ist wie das »Hotel Stephanie« auf der anderen Seite. Bestimmt vom gleichen Architekten. Die stuckverzierte Fassade, die Drehtür, die großen Fenster mit den gerafften Gardinen. Aber sicher gibt’s hier drin kaum ein Theater.
    Ich

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