Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
die Melodie auf. (Eine durchdringende, nasale Stimme, mehr sprechend als singend. Jedes Wort steht scharf im Raum.) Es ist ein Couplet. Eine Parodie des Operettenlieds.
Das Thema: Wie man als Jude in Wien zu einer Stellung kommen kann. Da gibt’s nach der Aussage des Kabarettisten nur eine Möglichkeit: »Zwei blaue Augen, dazu strohblondes Haar / So sieht man dich gern, so wirst du Mandatar./ Bei jedem Amt legt man’s Hauptgewicht / auf des Bewerbers arisch’ Gesicht. / Mit krummer Nase hast du hier keine Chance / Da kannst du nix machen, das ist so Usance.«
Man könnte eine Stecknadel zu Boden fallen hören.
Langsam löst sich der Chansonnier vom Klavier, geht nach vorn, eine Hand in der Hosentasche.
»Gleich, ob du Dichter bist oder Gelehrter / Man sagt bedauernd: Ja, Hochverehrter / Kann ja sein, Sie ha’m Qualität / Doch das, was wichtig ist, das ham’se net ...« Und nun stimmt der Saal johlend, schunkelnd in den Refrain ein: »Zwei blaue Augen, dazu strohblondes Haar ... «
Leonie sitzt auf der Kante ihres Stuhls. Der traut sich was! Sie hebt ihr Glas, will Anton zuprosten – und sieht, dass der überhaupt nicht auf die Bühne schaut. Er nagt an seinem Daumen herum, wie immer, wenn ihm was nicht passt oder peinlich ist, und guckt vor sich hin: ein Bild des Unbehagens. Ihm ist das Lied wohl genauso zu wider wie die ganze Umgebung hier. Schließlich hat er zwar kein strohblondes Haar, aber seine Augen sind doch mehr blau als alles andere. Fühlt er sich »attackiert«? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen ...
Schade. Da hat sie ihm ja anscheinend etwas zugemutet. Hat ihn hierher mitgeschleppt und gedacht, ihm macht so etwas Spaß.
Der Sänger da oben ist inzwischen bei den nächsten Berufen angelangt. Will man Beamter, Richter, Rechtsanwalt, Polizist werden, immer braucht man »Zwei blaue Augen, dazu strohblondes Haar...«.
»Gehen wir jetzt?«, fragt Anton in den donnernden Applaus.
»Nach der nächsten Nummer!«, erwidert Leonie, schon ein bisschen ärgerlich. »Der singt bestimmt ein zweites Mal. Außerdem ist noch Champagner in der Flasche. Trinken Sie, Anton!«
»Da haben S’ recht!«, murmelt er und schenkt ihnen beiden die Gläser voll.
Und wieder wird es still. Der Sänger dreht eine Runde auf der Bühne, gefolgt vom Scheinwerfer, nimmt winkend noch ein mal ein Händeklatschen entgegen. Dann geht er vor zur Rampe. Es wird still. Das Publikum erwartet offenbar eine Ankündigung und die folgt. Er sagt nämlich leise und vertraulich: »Und jetzt: Ring frei für alle, die selbst etwas zum Gelingen des Abends beitragen wollen. Ring frei für die Mutigen aus dem Publi kum.«
Was ist denn das? So etwas hat sie noch nie erlebt. Da sollentatsächlich irgendwelche Zuschauer am Programm mitwirken? Richtig, da draußen stand ja: Unter Mitwirkung des Publikums.
Das würde sich in Berlin beim Jüdischen Theater niemand herausgenommen haben, nicht einmal bei dem »Bunten Abend«, wo nur Operettenmelodien gesungen und getanzt wurden. Einfache Unterhaltung. Aber das ist ja hier auch kein Theater, das ist Kabarett, etwas anderes.
Und zu Leonies Erstaunen erhebt sich wirklich von hinten, von den im Dunkeln liegenden Tischen, eine junge Frau. Sie trägt ein leuchtend buntes Sommerkleid, hat ein Stirnband im Haar, und geht ohne Scheu unterm Applaus des Saales auf die Bühne. Wie’s aussieht, kommen einige »Laien« ganz gezielt hierher, um sich zu produzieren.
Sie bespricht sich kurz mit dem Klavierspieler, tritt dann an die Rampe und beginnt mit weicher, zarter Stimme: »Mein Vater ging fort, um zu handeln / Man nannte ihn Pinchas der Jidd./ Und Mamele sang uns ein Lied / Ein Lied von Rosinkes und Mandeln...«
(Es ist so etwas wie eine Ballade, eine wehmütige Erinnerung an die kleinen Judenstädte im Osten; die Mutter tröstet die Kinder, die nichts zu essen haben, mit dem Versprechen von Rosi nen und Mandeln, die der Vater mitbringen wird.)
Die Stimmung im Saal hat sich gewandelt. Die ganze weinselige Ausgelassenheit ist fort. Kein Glas klirrt, kein Stuhl wird bewegt. Diese reichen Männer und ihre Frauen lauschen mit Ergriffenheit dem Lied – einer Geschichte von einer Welt, die sie nie kennengelernt haben. Da ist so etwas wie Brüderlichkeit im Saal. Arm und Reich scheinen unwichtig zu sein. Sicher nur für diesen Moment. Aber sie ist da.
Leonie beachtet den jungen Mann an ihrer Seite nicht mehr. Sie sitzt, gespannt wie eine Feder, hört zu, saugt auf, was hier geschieht. Ein
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