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Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2

Titel: Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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in dieser Küche stand, greift sie deren widerspenstige Haarsträhne und steckt sie unter das Kopftuch zurück. Ihr fällt ein, dass sie damals Herzklopfen hatte. Es war das erste Mal, dass sie diese geheimnisvolle Person berührte, und damals flößte sie ihr noch Furcht ein, war sie für sie so ein Mittelding zwischen einer Hexenmeisterin und einer Besessenen. Inzwischen hat sie, Leonie, selbst ja Ähnliches durchlebt wie diese Frau, und als sie so die kühle, lebendige Haarlocke berührt und die glatte elfenbeinblasse Stirn ih - rer Ahnfrau, hätte sie sie am liebsten geküsst, aber sie hat zu viel Respekt vor ihr.
    »Ich helfe dir gern«, sagt Leonie, »helfe dir bei allem.« Sie streift die Ärmel ihres Kleides hoch und geht zum Spülstein, um sich zuerst die Hände zu waschen. Dann fällt ihr etwas ein. Sie dreht sich um, bewaffnet mit dem Handtuch aus kariertem Leinen. »Aber ich muss dich um etwas bitten.«
    Isabelle zieht fragend die Augenbrauen hoch.
    Leonie sieht auf ihre Hände, während sie sich sorgfältig abtrocknet, Finger für Finger.
    »Bitte sing keines der Lieder. Du weißt schon. Die – die Küchenlieder. Das könnte ich nicht aushalten, glaube ich.«
    Sie sehen sich in die Augen.
    (Sie beide, Schlomo und Leonie, haben zusammen gesungen in Glück und in Bedrängnis. Haben zu dem einen getanzt und sind durch die zerstörten, vom Pogrom geschändeten Straßen des Berliner Scheunenviertels gelaufen, da war das andere auf Schlomos Lippen.)
    Nicht dran denken.
    »Das verspreche ich dir«, sagt Isabelle. »Keine Lieder.« Und so hantieren sie stumm in der Küche an diesem Tag.
    Wahrscheinlich essen sie später zu Abend als sonst; jedenfalls wäre das logisch in der Silvesternacht. Leonie weiß es nicht. Es ist nicht nur so, dass sie sich nicht darum gekümmert hat, welcher Wochentag es ist oder welches Datum man hat. Irgendwie ist ihr auch das Gefühl für den Tagesrhythmus seit Berlin abhandengekommen. Entweder vergeht die Zeit zu schnell oder zu langsam, als wäre sie auf einer Reise zu einem anderen Stern ... und sie hat überhaupt keine Lust, auf eine Uhr zu sehen. Also, was soll’s.
    Sie haben einen schönen Brotlaib gebacken und außerdem noch sogenannte galettes aus dem restlichen Teig geformt, flache Küchlein, die wie Kronen gezackte Ränder haben, eine Spezialität aus der Region zu Silvester, wie Isabelle erklärt hat. (Dass man in diese galettes eigentlich kleine Geschenke »einbaut«, Glücksbringer, Talismane, verschweigt sie lieber. Sie ist mit Gaston übereingekommen, nicht zu viel auf einen besonderen Tag hindeuten zu lassen. An Leonies Gemüt soll vorerst nicht gerührt werden.)
    Sie essen ihren Meeresfrüchte-Salat, Oliven und Salzmandeln und trinken einen Weißwein und reden über Belanglosigkeiten. Über die winterliche Olivenernte, über die Stürme, die im Novemberdie Bucht von Cerbère heimgesucht haben. Über diese und jene Familie im Ort. Leonie hört mit halbem Ohr hin und fühlt sich vorübergehend geborgen. Ihre Schmerzen schlafen.
    Im Gegensatz zu den beiden alten Leuten, deren Schwarz heute noch feierlicher wirkt (Gaston mit Seidenrevers am Jackett und funkelnder Krawattennadel, Isabelle in warmem Samt mit Spitzenmanschetten), hat sie sich nicht umgezogen, hat ihr Kleid nicht gewechselt. Sie berührt von Zeit zu Zeit mit der Hand den zerschnittenen Kragen. Sie braucht es.
    Und sie bemerkt natürlich, dass das Paar jedes Mal, wenn sie ihre »Wunde« anfasst, einen verstohlenen Blick wechselt.
    Gaston gießt reichlich Weißwein nach; Isabelle hat schöne bunte Kristallgläser aus dem Schrank geholt, ein rotes für Gaston, ein blaues für sich selbst, aber das schönste hat Leonie; es sieht aus, als habe man die Farben des Regenbogens zu Strängen verflochten und miteinander verschmolzen.
    Leonie trinkt hastig und hält ihr Glas immer wieder hin. Sie würde gern betrunken werden. Vielleicht sähe dann die Welt nicht mehr ganz so erbarmungslos leer aus. Aber der Wein steigt ihr nicht zu Kopf, sie könnte genauso gut Wasser trinken.
    Und dann sagt Gaston etwas. Er sagt: »Nur noch zwei Stunden bis zum neuen Jahr, dem Jahr, wo du nach Wien gehen wirst. Ein Jahr näher heran an das Rettungswerk und Isabelles Erlösung von ihren bösen Visionen. Die Zeit ist deine Freundin, Leonie, glaub es mir. Du wirst ... «, er hebt ihr sein Glas entgegen. »Du wirst wieder gesund werden.«
    »Ich bin nicht krank«, sagt sie mechanisch. »Ich bin nur etwas müde von dem allen.«
    »Ja«,

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