Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
man vergessen hat, zu Bett zu bringen, treiben einen Reifen mit dem Stock vor sich her. Genau so einen Reifen, wie ich ihn in dem Spielzeuggeschäft sah, wo ich dann meine Stelzen kaufte. Er rollt mir vor die Füße und ich hindereihn daran umzukippen. Ein kleines Mädchen mit großen Zopfschleifen bedankt sich artig mit Knicks bei mir.
Eine Frau mit einem hochrädrigen Kinderwagen fährt eine kurze Strecke neben mir her, biegt dann in eine Seitenstraße ein.
Ich bleibe stehen, betrachte mir die Auslagen eines Hutsalons. Wirklich verwegene Kappen sind da ausgestellt. Ob ich mir so ein Ding zulege? Mein großer Hut ist ja wohl verloren ...
Jemand atmet hinter mir. Steht dicht bei mir am Schaufenster. Die Scheibe spiegelt nicht, so kann ich nicht erkennen, ob das Mann oder Frau ist. Finde es nur unangenehm und gehe schnell weiter.
Aber ich werde dieses Atmen hinter mir nicht los. Jemand folgt mir in des Wortes wahrstem Sinn auf den Fersen. Ich beschleunige meine Schritte. Es hilft nichts. Der bleibt dran.
Und dann höre ich es, ein heiseres Murmeln: »Ich hab dich. Ich krieg dich. Judenbraut, kleine Hure. Ich lass dich nicht aus, auch wenn du im feinen Palais wohnst.«
Ich fühle, wie sich die Härchen auf meinen Armen aufrichten.
Er ist da. Mitten im Menschengewimmel ist er da hinter mir. Mein Verfolger. Unwillkürlich werde ich noch schneller, schlängele mich zwischen den Spaziergängern vor mir durch, renne fast.
Habe ich ihn abgehängt? Es scheint so.
Ich gehe wieder langsamer. Mein Herz klopft wie wild. Noch immer flackert die Angst in mir wie ein Feuer.
Ich muss hier weg! Ich halte Ausschau nach einem Taxi. Aber es ist wie verhext. Sonst stößt man alle Augenblicke auf einen freien Wagen oder auch einen freien Fiaker. Was kommt, reagiert nicht auf mein Winken. Alles besetzt!
Und da ist es wieder, hinter mir. Das Murmeln. »Ich hab dich. Ich krieg dich. Mich trittst du nicht zum zweiten Mal. Schreien wirst. Ich hab’s gern, wenn eine schreit.« Und dann eine ganze Salve von obszönen Ausdrücken.
Ich will fort, nur fort! Komme nicht vorwärts in dieser belebten Straße.
In dieser belebten Straße ... Jetzt sind noch mehr Leute unterwegsals vorhin. Langsam kehrt mein Verstand zurück, den die Panik zuvor ausgelöscht hatte. Es kann mir hier doch nicht wirklich etwas passieren! Die offene Straße schützt mich vor Schlimmerem. Es ist widerwärtig, was der da tut, aber der will sich nur an meiner Angst weiden.
Anton hat recht. Das ist nichts weiter als ein elender Spanner, dem man Paroli bieten muss.
Leonie, wehr dich!, spreche ich mir Mut zu. Stell diesen Dreckskerl. Wie Schlomo es gemacht hat, als er verfolgt wurde, damals in Berlin.
Inzwischen ist meine Wut größer als meine Furcht. Ich bleibe abrupt stehen, drehe mich um.
Damit hat er nicht gerechnet. Er prallt fast gegen mich, reißt erschrocken die Äuglein auf, stolpert. Dies feiste Gesicht, das blonde Schnauzbärtchen auf der Oberlippe, die Trachtenjoppe ... Er riecht nach Schweiß. Es schüttelt mich.
Ich gebe volle Lautstärke, wie auf der Bühne. Alle um mich herum sollen mich hören. »Du elender Halunke, was nimmst du dir heraus! Hör auf, mir nachzurennen und dreckige Ausdrücke vor dich hin zu spucken! Scher dich weg!« Ich balle die Fäuste.
Die ersten Passanten bleiben stehen.
»Was schreien S’ denn so, Fräulein?«, fragt ein junger Mann, an dessen Arm sich ein Mädchen in bunt geblümtem Kleid, Strohhut auf dem Kopf, eingehängt hat. »Will Ihnen wer was antun?«
»Dieser Mann da belästigt mich! Ja, der da!« (Denn mein Verfolger ist inzwischen ein paar Schritte rückwärts gegangen und nun kann ich mit großer Geste die Hand ausstrecken und mit dem Finger auf ihn zeigen.)
»Was haben S’ denn mit dem Fräulein zu schaffen?«, mischt sich der Nächste ein. »G’hört die zu Ihnen?«
Ich übernehme die Antwort: »Der gehört nicht zu mir und ich gehör nicht zu ihm! Dieser Mistkerl stellt mir nach!«
Mit so einer Reaktion hat der Kerl offenbar nicht gerechnet. Er dreht sich um und ergreift die Flucht und die Leute um mich herum lachen. Hat wohl allen Spaß gemacht, die kleine Episode ...
Außer mir natürlich. Mir ist überhaupt nicht nach Lachen zumute.
Zum Glück kommt endlich ein freies Taxi vorbei. Ich winke es heran, steige ein und nenne die Adresse. Dann lehne ich mich in den Polstern zurück und schließe die Augen. Noch immer schüttelt es mich. Vor Ekel hauptsächlich, aber auch vor Angst. Er weiß, wo ich
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