Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
der Hand und sieht ihre junge Verwandte mit so einem bestimmten Blick an.
»Du kannst mir natürlich erst helfen und es mir dann sagen, aber es geht auch umgekehrt«, bemerkt sie ruhig. »Wir haben noch Zeit bis zum Abendessen.«
Leonie schluckt. Sie hätte es wissen müssen, dass Isabelle nicht entgeht, dass ihr etwas widerfahren ist. Schließlich hat sie »die Gabe« – und sind sie beide damit nicht durch viel mehr verbunden als durch eine wie immer geartete Verwandtschaft?
»Dann lieber gleich«, erwidert sie und fühlt, wie ihr das Blut prickelnd in die Wangen steigt.
Isabelle trocknet sich die Hände am Küchentuch ab und macht eine Kopfbewegung: nach oben. Ins Turmzimmer, ins Boudoir. Ja, was wohl anders. Und wo wohl anders.
Und da oben, zwischen den bunt leuchtenden illustrierten Pergamenten, den heiligen Gegenständen des Judentums, den Schriftenrollen und Leuchtern, den Gewürzständern und Tafelaufsätzen aus Silber, auf den farbigen Kissen, alle vier Himmelsrichtungen um sich versammelt, erzählt sie es zwischen Lachen und Weinen.
Als sie fertig ist damit, schweigt Isabelle einen Augenblick. Einenziemlich langen »Augenblick«. Dann sagt sie nüchtern: »So, nun hast du also einen Dibbuk als Liebsten.«
»Ich habe was ?«, fragt Leonie entgeistert. Sie hat das Wort noch nie gehört, aber es klingt irgendwie ungut.
»Einen Dibbuk«, erklärt Isabelle ungerührt. »Einen Geist, einen Wiedergänger. Jemanden, der nicht loslassen will.«
»Aber ... «, Leonie gerät ins Stammeln. »Aber ich bin es doch, die nicht loslassen will! Ich habe ihn – ich habe ihn sozusagen herbeigerufen. Herbeigesehnt. Und so etwas ... geht?«
Isabelle nickt.
Sie sitzt Leonie gegenüber auf den Kissen, sehr dicht bei ihr, sie könnte sie bei den Händen nehmen und zu sich heranziehen, aber sie tut es nicht. Betrachtet die junge Frau nur mit sehr wachsamen Augen.
»Du hast ihn herbeigerufen, das ist keine Frage. Aber nicht jeder, der gerufen wird, kommt auch wirklich. Da muss schon ein starkes Band da sein. Nun, daran habe ich nie gezweifelt.«
»Da ist ein Aber, nicht wahr?!«, sagt Leonie. Ihre Augen glitzern. Nein, eigentlich will sie kein Aber hören! Sie hat die Kraft gehabt, ihren Liebsten zurückzurufen ...
»Da ist mehr als ein Aber«, sagt die Ahnfrau und verzieht ein bisschen die Mundwinkel. »Ganz einfach. Du lebst und er ist tot.«
»Das sagst du mir? Du, die du mit den Geistern irgendeiner Zukunft auf Du und Du bist? Die du dich von ihnen heimsuchen lässt, als wärst du ein Tummelplatz für ein ganzes Heer von – wie sagst du? – von Dibbuks?«
Leonie ist wütend, aber immerhin, sie hat es geschafft. Jetzt blitzen die Augen der alten Frau. Sie blitzen vor Zorn.
»Wie kannst du es wagen, das zu vergleichen? Was du dir in deiner Verliebtheit herbeigerufen hast, das hat mit meinen Visionen so viel zu tun wie, wie ... «
»Ach, bist du um einen Vergleich verlegen? Nur damit du es weißt: Ich habe sie geerbt, die entsetzliche Gabe. Ich habe gesehen in Berlin, vor der Ermordung des ... des Mannes, der jetzt zu mir zurückgekommen ist. Ich habe nächtelang vorausgesehen, dass esbrennen würde, ich habe es gerochen, das Feuer und seine Hitze gespürt, ich war mittendrin, ich ... « Leonie ringt nach Luft.
Isabelle hat die Hände in die Hüften gestemmt. »Stimmt ja. Da nehmen wir uns nichts.« Dann legt sie den Kopf in den Nacken und sagt ganz trocken. »Aber sag mal, ist das hier irgendwie so etwas wie ein Hexenwettstreit? Nach dem Motto: Wer hat mehr magische Erlebnisse?«
Und auf einmal beginnt sie zu lachen, laut und hemmungslos.
Leonie steht der Mund offen. Und jetzt zieht die alte Frau sie plötzlich mit einem Ruck zu sich heran, greift sich ihren Kopf und drückt Leonies Stirn gegen die ihre.
»Du weißt es, nicht wahr?«, sagt sie, ohne die Stimme zu heben und zu senken, ganz normal. »Er lebt nur von dir. Er spinnt die alten Spulen ab. Manchmal in anderer Reihenfolge, das ist bestimmt spannend. Aber er ist vergangen. Er kann jetzt noch eine Weile mit dir sein. Nur, Liebes, verpass nicht den Zeitpunkt.«
»Was für einen Zeitpunkt?«
Isabelle atmet tief ein, lehnt sich zurück. Sie legt ihre Arme fest um die Schultern der jungen Frau, und Leonie ist eingebettet in einen Strom von Liebe und Fürsorge – der von einem Damals kommt, der durch die Zeiten geht und weiter irgendwohin, aber im Augenblick ist sie es hier, im Zentrum, und niemandem außer ihr gilt das alles, das von »Damals« und
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