Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
das von »Irgendwohin«.
Und dann sagt Isabelle etwas Ungeheuerliches. Sie sagt: »Du darfst auf keinen Fall den Zeitpunkt verpassen, wo du deinem Dibbuk einen kräftigen Tritt versetzen musst. Denn sonst frisst er dich auf.« –
Manchmal könnte ich sie hassen, diese alte, ziemlich verrückte Frau. Ein Dibbuk also.
Wieder einmal so etwas spezifisch Jüdisches, von dem ich keine Ahnung hatte. Woher auch. Aber vielleicht geistern Dibbuks bei diesen meinen Verwandten ja häufiger herum? Schon das kränkt mich. Mein Wiedergänger soll der Einzige sein, mein ganz alleinmir vorbehaltenes Wunder, das mir hilft zu leben. Endlich wieder zu leben.
Und dann erteilt sie mir diesen schnöden Rat ...
Ja. Ja, ich weiß, Frau Urgroßtante. Ich soll nicht verharren, mich nicht aufhalten lassen ... Du willst mich erneut in den Kampf schicken, und das möglichst schnell.
Und ich will es ja auch. Aber ich muss doch erst wieder Ich werden ... Ich brauche Kraft. Deine Kraft, Schlomo Laskarow. Und die werde ich finden, wenn du mich weiterbesuchst da oben auf dem Berg, auf unserer »Bühne«!
In den nächsten Tagen vermeide ich es, zu den Mahlzeiten hier auf Hermeneau zu kommen – das ist nicht schwer. Das Frühstück steht ohnehin immer für mich allein bereit, und wenn man mich gegen Mittag aus dem Haus gehen sieht, gilt die stillschweigende Übereinkunft, dass man nicht auf mich wartet. Abends holt sich ohnehin jeder nur, was er möchte, aus der Küche.
Und ich besuche nicht die Sabbatfeier am Freitagabend, auch wenn der Gong, der dazu einlädt, tief und voll durchs Haus tönt. Sicher wird ein Gedeck für mich bereitstehen. Doch ich mag nicht.
Ich will niemanden sehen und das wird respektiert. Aber natürlich weiß ich, dass man jeden meiner Schritte registriert, ob das nun von den Fenstern der Bibliothek, des Salons oder der Küche ist – immer bewegt sich eine Gardine, wenn ich zufällig hingucke, streift ein Schatten vorüber. Und Isabelles Zimmer mit den Fenstern in alle vier Windrichtungen kommt mir vor wie der Wachturm einer Burg, von wo aus der Türmer das Land im Auge behält.
Ich habe das Gefühl, dass ich nicht entrinnen kann. Dass ich ausgespäht werde, wohin auch immer ich mich wende. Nur oben auf meinem Plateau, meiner »Bühne«, bin ich einsam. Aber nicht allein. Ganz und gar nicht allein. So vergeht die Zeit.
Wenn die Tage grau sind, liege ich ganze Stunden im warmen Wasser der Badewanne mit den Löwenfüßen und lerne Shakespeares Julia auswendig. Es ist unser Stück. Ich muss es spielen. Aber wie?
Diese Liebesgeschichte rumort in mir wie bittersüße Speise in einem Topf, der kurz vorm Überkochen ist, und mein eigenes Leben wird zu dem des jungen Mädchens aus Verona.
Aber ich bin eine Julia, die schon weiß, dass ihr Romeo am Ende sterben wird – wo also soll sie all das Erstaunen, das Entdecken, die ungetrübte Seligkeit hernehmen, die solch eine Figur nun einmal braucht? Kann ich überhaupt das Mädchen sein, das sagt: »Oh süßer Romeo! Wenn du mich liebst / Sag’s ohne Falsch! Doch dächtest du, ich sei / Zu schnell besiegt, so will ich finster blicken / Will widerspenstig sein und nein dir sagen / Damit du werben kannst ... « Woher nehme ich diese sanfte Schalkhaftigkeit, diese naive Direktheit? Shakespeares Julia hat zu Beginn noch keine Wunde empfangen. Ich dagegen spüre meine Narben brennen. Wie soll ich gegen den Schmerz anspielen – mich verhalten, als wüsste ich noch nicht, wie es ausgeht?
Ich merke, schon bevor ich noch eine einzige Geste, einen einzigen Schritt als Julia getan habe, dass ich nicht unbedarft sein kann in dieser Liebe, die ich spielen muss. All das, was ich erlebt habe, die Ängste und Nöte, mit denen wir beide, Schlomo und ich, umgehen mussten, recken ihren Kopf hoch und schleichen sich ein zwischen die Verse des Dichters.
Meine Julia hat – auch wenn es im Stück nur um den unversöhnlichen Streit der Familien geht, der ihre Liebe gefähr - det – genau solche Angst um ihren Geliebten wie ich sie um den meinen, den »Tatsächlichen« hatte. –
Sobald die Sonne herauskommt, kraxele ich hoch zu dem Felsentor, durch das ich zu meiner »Bühne« gelange. Stehe und sehe über das Meer und die Orte irgendwo da an der Côte Rocheuse, alles meine Zuschauer. Mein Theater. Und deins. Schlomo. Komm, wir spielen.
Und das Wunder geschieht. Wieder und wieder.
Er ist da. Er ist zuverlässig da. Wenn es ums Theaterspielen ging, war er immer zuverlässig. Und nun hole
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