Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
meinem ... meinem Dibbuk irgendwohin zu fliegen, wenn du das meinst. Ich wollte mich nicht umbringen. Sag das Isabelle. Ich kenne meine Aufgabe und ich werde mich nicht davonstehlen. Und jetzt will ich schlafen.«
16
Matt fühlt sie sich, matt und müde. Noch immer tut der Kopf weh, und von Zeit zu Zeit versinkt sie in eine schläfrige Apathie, in der die Dinge der Wirklichkeit und des Traums sich vermischen und verschwimmen.
Einmal ist ihr so, als würde ihr Vater im Zimmer sein. Sie fühlt seine Gegenwart, und sie ist sich sicher, wenn sie jetzt die Augen aufmacht, steht er da an ihrem Bett, gekleidet, wie meistens in Berlin, wenn er zu seinen Bewerbungsgesprächen aufbrach, um endlich wieder eine Anstellung als Koch zu bekommen: der korrekte Anzug, der Hut, die Aktentasche. Sie ist erschrocken und froh zugleich und wünscht sich nichts weiter, als ihm um den Hals zu fallen; alles Böse zwischen ihnen ist vergessen. Aber als sie die Augen öffnet, ist da niemand.
Da muss sie weinen.
Hin und wieder heult sie auch grundlos, und sie hat das dringende Bedürfnis, von jemandem in den Arm genommen zu werden, egal von wem. Diesen Liebesdienst erweist ihr manchmal die Schwester mit den Ponyfransen, ihre Lieblingsschwester, die es als selbstverständlich ansieht, dass Patienten manchmal »Stimmungen« haben.
Gaston kommt jeden Tag mit dem Wagen von Hermeneau nach Perpignan, um Leonie zu besuchen. Als es ihr besser geht, bringt er ihr auf ihre Bitte hin ihren Shakespeare mit, sodass sie ihre Rolle lernen kann, und immer wieder eine andere kleine Aufmerksamkeit: einen handlichen Steintopf mit in Rotwein marinierten Pflaumen aus den Tiefen des Schlosskellers – wenn man den Deckel öffnet, verbreitet sich ein Duft von Zimt, Honig und Anis im Zimmer; grüne Walnüsse in Sirup, ein paar Scheiben geräuchertenZiegenkäse mit Pistazienkruste, vorjährige Äpfel voller Saft und Süße geben der eintönigen Krankenhauskost etwas Würze; die ersten Veilchen machen Leonie klar, dass der Frühling nun mit aller Macht gekommen ist und der vereiste Tag auf dem Plateau wirklich der Abschied des Winters war; ein kleines, in feines Leder gebundenes Büchlein mit neueren Kurzgeschichten auf Französisch zur Zerstreuung – man kann es in einer Hand halten, da der zweite Arm ja »verpackt« ist (in Hermeneau denkt man an alles!) – und ein »Journal des Modes«, eine Modezeitung aus Paris, aus der man endlich erfährt, was die große Welt gerade trägt; bunte Bilder, die sie nicht sonderlich interessieren. Ablenkung eben.
Gaston bleibt nie viel länger als zehn Minuten, obwohl er ja einen halben Tag für die Fahrt hin und zurück opfert. Leonie genießt diese Art der Fürsorge, den stillen Aufwand. Der alte Mann redet nicht viel, er berichtet ein bisschen von dem, was auf dem Schloss vorgeht, wie es nun Frühling wird da draußen, dass es Isabelle gut geht.
Isabelle selbst kommt nie. Das beunruhigt sie, doch sie fragt bei Gaston nicht nach den Gründen. Wenn er denn nichts von allein sagt ... Sie ist noch zu matt, bohrende Fragen zu stellen. Aber der Gedanke an Isabelle lässt sie nicht los. So vertraut, wie sie miteinander sind: Warum macht sie sich jetzt so rar?
Die Ponyfransenschwester bringt ihr eines Tages einen ganzen Strauß bunter Frühlingsblumen aufs Zimmer. (»Damit Sie sehen, wie schön es inzwischen draußen ist, Mademoiselle!«) Und sie öffnet das Fenster, um die wärmenden Sonnenstrahlen hereinzulassen. Frische Luft tut gut.
Leonie liegt still, mit geschlossenen Augen und atmet ruhig. Wartet.
Ein Luftzug streift ihre Stirn.
Ein Luftzug und nichts weiter. Niemand schiebt ihr das Haar hinters Ohr. Keine Stimme lacht leise neben ihr, niemand flüstert ihr alte Liebesworte zu.
Es ist vorbei.
Schlomo Laskarow, ihr Dibbuk, hat sie nun endgültig verlassen.
Es ist merkwürdig, aber sie empfindet keinerlei Trauer darüber. Es war Zeit, ihn zu verabschieden. Ihn einfach nur noch einen toten Geliebten sein zu lassen.
Ihr fällt eine Zeile aus einem Buch ein, das sie im Haushalt der Schauspielerfamilie Laskarow gefunden hat – ein Buch, aus dem sie auch die Legende vom Golem in allen Einzelheiten kennt. Es ist ein Segensspruch zum jüdischen Neujahrsfest, wo man sich gegenseitig Glück wünscht.
»Mögest du eingeschrieben und besiegelt sein im Buch des Lebens«, murmelt sie.
An diesem Tag steht sie das erste Mal auf, trotz der Kopfschmerzen und des ärztlichen Verbots, und spaziert schief und krumm durch die
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