Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
zärtliches Bitten mehr. Es bricht aus ihr, aus Julia, hervor: »Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch fern./ Es war die Nachtigall und nicht die Lerche / Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang ... Glaub, Liebster, mir, es war die Nachtigall.«
Keine Melancholie. Die nackte Panik. Geh nicht, geh nicht!
Sie hält ihn fest, ganz fest. Hört Romeos Worte an ihrem Ohr vorbeiziehen wie ein Rauschen: »... nur Eile rettet mich, Verzug ist Tod ...«
Nein, bleib. Gehen ist Tod. Etwas wird geschehen, ich spüre es!
Eine plötzliche Dunkelheit verfinstert die »Bühne«. Die nächsten schwarzen Wolken.
»Drum bleibe noch, zu gehen ist nicht Not ...«
Dringend, beschwörend. Ich weiß ja schon alles, was kommen wird. Wir werden uns lebend nicht mehr wiedersehen.
»Nun, Herz, noch tagt es nicht, noch plaudern wir.«
Damals: »Ich bin ganz schnell zurück.« Er knöpft sich die Manschetten zu. Und dann sein wehender Mantel, nur wenig später im Scheunenviertel. »Solang noch warm das Blut in meinen Adern fließt ...«
Jetzt auf einmal: »Es tagt, es tagt! Auf, eile fort von hier!« Dabei hält Julia ihn fest, reißt Romeo wieder an sich, in ihre Arme, presst ihn ans Herz, ihr Ein und Alles. Geh nicht! »Stets hell und heller wird’s! Wir müssen scheiden!«
Und da ist seine Stimme, seine lebendige Geisterstimme nun mit Romeos Text: »Hell? Dunkler stets und dunkler unsre Leiden!«
Unsere ... Deine ...? Wieso deine Leiden? Du musst nicht mehr leiden, du hast es hinter dir. Kannst mit mir spielen auf einem Plateau in den Pyrenäen, Dibbuk, Geburt aus meinem Kopf.
Wir müssen scheiden? Er will fort, er will mich allein lassen!
Sie geht vor bis nahe an den Rand der Klippe, an den Rand des »Balkons«. Sie schreit. Julia schreit. »Tag, schein herein! Und Leben, flieh hinaus!«
Und er, Romeo nun, antwortet, antwortet ihr, antwortet Julia: »Ich steig hinab, lass dich noch einmal küssen.«
Die Berührung auf ihren Lippen, bevor er entschwindet.
Aber sie lässt nicht los, Julia lässt nicht los, hält ihn fest, wird noch dichter an den Rand des Felsens, des Balkons gezerrt. Sie murmelt: »Mich däucht, ich seh dich, da du unten bist / Als lägst du tot in eines Grabes Tiefe.«
In eines Grabes Tiefe.
»Der Schmerz trinkt unser Blut. Leb wohl! Leb wohl!« Damals : »Nicht so schlimm.« Das Blut überall.
Leonie schwankt. Land und Meer und Himmel schwanken mit um sie. Sie balanciert auf den Fußballen, dreht sich herum, will wieder zurückgehen, zurück in Julias Zimmer, die Szene weiterspielen.Ich bin Komödiantin. Ich habe weiterzumachen. Ich habe mich zu verabschieden von Romeo.
Die Sonne hatte hier oben noch nicht genügend Kraft, gegen die Tücken der Nacht anzukommen. Noch immer sind die Kristalle nicht geschmolzen.
Ihre Schuhe geraten auf den vereisten Rand des Gesteins. Sie rutscht.
Im Fallen denkt sie: Auffangen kann er mich nicht. Schließlich ist er kein Engel.
15
Alles um mich herum ist weiß. Weiß wie eine Leinwand, auf die noch keiner etwas gemalt hat.
Schwierig, festzustellen, wo man sich befindet, wenn die Konturen so verschwimmen. Langsam fasst der Blick etwas. Immerhin, das scheint ein Zimmer zu sein. Weiße Wände, weiße Decke. Weiße Vorhänge.
Weißes Bettzeug. Ich liege in einem weiß lackierten Bett und zumindest ein Arm ist ebenfalls weiß umwickelt.
Ich versuche vorsichtig, den Kopf zu drehen. Schwierig. Erstens tut es höllisch weh und zweitens scheint auch mein Kopf verbunden zu sein.
Schlussfolgerung: Ich lebe und offensichtlich liege ich in einem Krankenhaus.
Das Letzte, woran ich mich erinnere: Ich stehe am Rand eines Felsens. Ich schwanke, drehe mich um. Meine Schuhsohlen rutschen auf Eis. Ich verliere den Halt. Ich fliege.
(»Es tagt! Es tagt! Auf, eile fort von hier.« Die Julia. Ich habe die Julia gearbeitet.)
Ich atme tief durch. Auch das tut weh. Irgendetwas stimmt nicht mit meinen Rippen.
Und sonst? Was ist noch kaputt?
Ich fange an, alles durchzuprobieren. Von unten nach oben. Wackele mit den Zehen. Gut. Ziehe die Knie leicht an und drehe sie nach außen. In Ordnung. Schiebe das Becken hin und her. Weniger schön. Wölbe den Rücken. Wieder der stechende Schmerz in den Rippen. Die linke Schulter, merke ich jetzt, ist ebenfalls dick bandagiert wie der Arm, und wenn ich sie bewegen will, tut es so weh, dass ich glaube, ohnmächtig zu werden. Hände, Finger?
Ohne Befund, wie die Ärzte wohl sagen würden. Das Kopfwackeln erspare ich mir erst einmal. Ruhe mich
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