Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
chérie!«
Ja, sie lächelt, aber ihre Augen sind ernst. Wie immer am Sabbatabend trägt sie feierliches Schwarz, ihre Perlen um den Hals, und sie kommt Leonie einmal mehr wie eine Fürstin oder Magierin vor. Wie hatte Gaston einmal gesagt, als sie das erste Mal hier war? »Isabelle ist jüdischer Adel.« Einmal wieder fühlt sie sich, die junge Frau, der alten gegenüber befangen. Es sind ja nicht nur die Jahre, die zwischen ihnen stehen. Isabelles Wissen und Weisheit – nein, so etwas wird sie wohl nie erreichen.
Nachdem der letzte Löffel Karamellcreme von den Tellern verschwunden ist, erhebt sich die alte Frau und löscht die Sabbatkerzen. Plötzlich steht sie neben Leonies Platz und legt der Sitzenden die Hand auf den Kopf. In leisem Singsang beginnt sie den Segensspruch, der eigentlich für den Abschied gedacht ist. »Es segne dich der Ewige und er behüte dich. Es lasse der Ewige sein Angesicht leuchten über dir und schenke dir Gnade. Es wende der Ewige sein Angesicht zu dir und schenke dir Frieden.«
Wie damals, als sie das erste Mal so gesegnet wurde, bei ihrer Ab reise auf dem Bahnhof von Port Bou im vorigen Sommer, hat Leonie eine Gänsehaut auf den Armen und fühlt ein feines Kribbeln in den Fingerspitzen. Es ist noch zu früh für den Spruch, er ist ein Reisesegen. Aber sie begreift, dass dies hier bereits Isabelles Abschied ist, dass sie ihr von hier, vom Sabbattisch, die geistige Kraft mitgeben will, die zweite Herausforderung zu bestehen. Dass sie sie losschicken will auf ihr Ziel zu.
Sie sieht zu der alten Frau auf. »Ich bringe den Buchstaben! Ich verspreche es!«, sagt sie leise. Und fügt dem Versprechen im Stillen hinzu: Und ich ziehe aus, um eine Schauspielerin zu werden. Eine der besten. Das eine und das andere.
»Gut«, sagt Isabelle so nüchtern, als hätten sie beide eben eine geschäftliche Abmachung getätigt. »Ich denke, Gaston wird dir noch einiges erklären wollen.«
»Ohne dich?«
»Ich muss nicht überall dabei sein!«, sagt Isabelle, und es klingtleicht ungeduldig. »Ich habe noch zu tun.« Als sie Leonies fragenden Blick sieht, muss sie lächeln. »Wenn du wiederkommst, wenn du das Mem bringst, den mittleren Buchstaben des lebenspendenden Wortes Wahrheit, dann werden wir wieder auf den Berggipfel gehen, wie voriges Jahr, als du zu uns kamst. Mit Fleisch und Wein, mit Tanz und Musik, mit Fuego y sapor unterm Sternenhimmel.«
Sie geht hinaus.
Ja, so soll es sein.
Ich rufe mir diesen verzauberten Abend zurück, als die beiden alten Leute mit mir in die sternenklare Nacht hinausfuhren, um auf einer Hochebene überm offenen Feuer Fleisch zu braten mit den Gewürzen, die ich aus der Küche meines Vaters kannte, und wo aus dem Grammophon, das sie mitgeführt hatten, das Lied erklang, das mich mein Leben lang begleitet hatte, ohne dass ich wusste, dass es ein jüdisches Lied ist. »Avram avinu« ...
Und mir wird klar, dass das Band, das mich nun mit Isabelle und Gaston und darüber hinaus mit der Vergangenheit meiner Familie verknüpft, dort seinen Anfang nahm. Und um das zu bewahren, müssen wir den Golem bauen. Den Beschützer. Den Retter. Dort oben. –
Voriges Mal vor ihrer Abreise haben sie sich im freundlichen Salon mit den zartgrünen Vorhängen und den Lampen mit den gläsernen Schirmen besprochen über das, was Leonies Aufgaben waren. Dieses Mal gehen Gaston und Leonie in die Bibliothek, den ernsten Raum mit den Ledermöbeln. Die Bücherrücken scheinen sanft das Licht der Prismenlampen zu reflektieren.
Gaston hat das Käppchen abgenommen, das er nach jüdischer Sitte bei der Sabbatfeier getragen hat, er glättet sein weißes Haar mit beiden Händen und bittet Leonie mit einer Geste zum Schreibtisch. »Ich habe hier etwas für dich vorbereitet«, sagt er. »Schau einmal.«
Da liegen zwei in graues Leinen gebundene »Baedeker«, die berühmten Reiseführer: einer für Wien, der andere für Wien und Umgebung.
»Da kannst du dich auf der Reise schon ein bisschen vertraut mit der Gegend machen, in die du nun verschlagen wirst!«, sagt er schmunzelnd. »Und hier hab ich dir einmal eine Karte von Wien aufgeschlagen.« Er tippt mit dem Finger auf einen Stadtplan, der da mit scharfen Falten und Knicken ausgebreitet neben den Reiseführern liegt. Angesichts des Gewirrs von Straßen und Eisenbahnschienen, von Wasserläufen und Grünanlagen bekommt Leonie fast Herzklopfen. Wie soll man sich denn da zurechtfinden? Andererseits, sie ist schließlich Berlinerin, kommt nicht
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