Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
Sie verschwindet in einer Felsspalte.
Ich zucke die Achseln. Dann eben ohne Eidechse. Ohne tierischen Beistand. Mit vorsichtigen Schritten, als könne ich etwas zertreten, gehe ich weiter vor zum Rand des Felsens. Jetzt ist das Brausen der Brandung da unten das Geräusch, das alles andere auslöscht, die Bienen und das Rascheln im Gras.
Bevor ich mich ganz an den Abgrund wage, werfe ich einen Blick über die Bucht, die Côte Rocheuse mit Orten, Häfen, Fischerbooten, und atme tief durch. Dann stütze ich meinen Fuß auf genau den Stein, von dem ich jüngst abgeglitten bin, rücklings gefallen, nicht vorwärts.
»Ich steig hinab, lass dich noch einmal küssen.« Das hat er gesagt, mit seiner warmen, seiner lebendigen Stimme. Hat er mich wirklich geküsst?
Ich beuge mich vor und sehe nach unten.
»Mich däucht, ich seh dich, da du unten bist / Als lägst du tot in eines Grabes Tiefe.«
Ich bin ausgerutscht auf dem Eis. Sonst nichts.
Da unten.
Da unten gibt es heute kein Bett aus Schlick und Schlamm. Da prallt Welle auf Welle gegen den Felsen. Und doch habe ich dort gelegen, in meinem roten Pullover, gut sichtbar, auf dem Rücken.
Gaston hat so etwas gesagt: Nach Stürmen sammelt sich an der Stelle Treibgut und Schlick. Und dann, ergänze ich für mich, muss bestimmt auch noch Ebbe sein. Das muss zusammenkommen.
So viel Massel kann man eigentlich gar nicht haben, würdest du, mein Schlomo, wahrscheinlich sagen. Außer man heißt Leonie Lasker und ist beauftragt, die drei Zeichen zu suchen.
Ich gehe zurück in die Mitte des Platzes, meiner »Bühne«, und erlaube mir die große Geste, die man sich als Schauspielerin ja wohl gönnen darf: Ich breite die Arme aus, schließe dieAugen, lege den Kopf in den Nacken und sage: »Danke. Ich danke dir.«
Und dieser Dank umschließt dich und dies alles hier. Con el pie derecho y al nombre del Dio.
Mit dem rechten Fuß voran und im Namen Gottes.
19
Kurz vor meiner Abreise bitte ich Gaston, mich nach Cerbère mitzunehmen, falls er in den Ort fährt.
Noch einmal möchte ich erleben, wie man mit dem Auto auf die scheinbar undurchdringliche Barriere des Viadukts zukommt, wie sich dann das schwarze Loch des Tunnels auftut, wie man durch dies Nadelöhr hinausschießt in die Landschaft zwischen Meer und Gebirge, in die der Ort eingebettet ist. Noch einmal möchte ich ein paar Schritte am Meer entlanggehen; mein abenteuerlicher Spaziergang am felsigen Ufer war irgendwie der Beginn der Genesung von meinem Kummer.
Und schließlich möchte ich bei Monsieur Fedan, dem Wirt des Bistros, einkehren und ihn fragen, ob er etwas mit diesen Grabstätten und der Jahreszahl 1897 anzufangen weiß. Wenn in diesem Jahr auch noch ausgerechnet Hermeneau in die Hände von Gaston gelangte – gibt es da einen Zusammenhang? Es beschäftigt mich doch sehr. Ich fange schon an, die merkwürdigsten Zahlenspiele zu betreiben, Quersummen zu errechnen, wie es Isabelle bei ihren kabbalistischen Arbeiten tut – erfolglos. Aber irgendetwas hat sich da bei mir festgehakt.
Auf der Fahrt frage ich den alten Mann ebenfalls danach, aber er schüttelt den Kopf.
»Ich habe mich damals sehr um Isabelle sorgen müssen«, sagt er. »Es ging ihr sehr schlecht. Du weißt ja. Den Kauf von Hermeneau hat ein Makler für mich abgewickelt. Als wir beide hierher- kamen, war alles schon erledigt.«
Nun, dann also nicht.
Ich lasse mich im Ort absetzen.
Das Meer, heute so sanft wie ein Schmusekätzchen, liegt silbrigund glatt da, kleine Wellen nur, die spielerisch in die Bucht lau - fen und sich wieder zurückziehen. Kaum vorstellbar, wie das bei Sturm war, als ich auf den Steinen unter der Klippe entlangbalancierte!
Ich kehre um, gehe zurück zum Marktplatz mit der kleinen ockergelben Kirche. Leute grüßen mich. Eine friedliche Welt. Ich setze mich für einen Moment auf die Bank da unter den Pla tanen, wo mir Gaston im vorigen Sommer das erste Mal eine Andeutung über Isabelles »Anfälle«, ihre Visionen, machte. Damals hatte mich das sehr befremdet. Da wusste ich ja noch nicht, dass ich ebenfalls so etwas durchleben kann, durchleben muss...
Ich überlege, ob ich zum Friedhof hochsteigen will, aber es ist viel zu weit, und wozu auch. Die Gräber werden mir ja nichts erzählen. Ich schlage den Weg zum Bistro ein.
Monsieur Fedan begrüßt mich herzlich und Madame umarmt mich sogar; es ist ja noch nicht so lange her, dass sie mich mit einem Fußbad erquickt hat und ich in ihren Wollstrümpfen nach Hermeneau
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