Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
Sauerampfer, wilder Thymian und Bärlauch wandern in meinen Korb, und wir zaubern in der Küche damit Salate, samtige moosfarbene Suppen und Gebirge von gelb und grün gesprenkelten Omeletten. Natürlich esse ich nun wieder mit den beiden alten Leuten zusammen.
Clémence, wenn sie denn da ist, um Lebensmittel zu bringen oder im Haus auszuhelfen, geht mir wie immer aus dem Weg. Ich habe ihr nicht einmal danken können – immerhin hat sie mir das Leben gerettet! Aber für sie bin ich wohl trotzdem nur die Boche...
Nach wie vor tut mir bei manchen Bewegungen die Seite weh, da, wo die Rippen ihren Knacks bekommen haben, und statt mich zu bücken nach dem Grünzeug, gehe ich lieber auf die Knie. Aber auch dieser Schmerz lässt nach. Alle Schmerzen der Welt lassen irgendwann nach.
Nachts habe ich das Fenster offen. Düfte kommen da herein und Gesänge. Da gibt es Nachtigallen – ich habe in Berlin noch nie eine Nachtigall gehört. Wo denn und wann denn? In Neukölln haben die genauso wenig gesungen wie am Spittelmarkt, als ich bei den Eltern meines Liebsten wohnte und eigentlich schon Tochter des Hauses war.
Duft und Nachtigallen.
Ob Schlomo das überhaupt gekannt hat? Es gibt so unendlich viele Dinge, die er nicht mehr erlebt hat. Die er nicht mehr sehen, schmecken, fühlen durfte. Die ihm das Schicksal einfach vorenthalten hat.
Wenn ich daran denke, dann packen mich wieder Wut und Schmerz, die Begleiter meiner letzten Wochen, und ich muss mich schnell ablenken, etwas lesen, etwas auswendig lernen, etwas in der Küche tun, um nicht in die alten Leidensmuster zurückzufallen, um mich nicht zu gefährden, mich und meine bevorstehende Mission.
Ich weiß, ich habe noch etwas zu erledigen. Ein Letztes hier in Hermeneau.
Eines Morgens, als ich auf Kräutersuche bin, merke ich, dass ich mich richtig bücken kann, die Rippen schicken mir nur noch eine sanfte Mahnung. Aber ich denke, ich kann mir wieder alles zutrauen. So lasse ich meinen Korb am Wegrain stehen und mache mich auf, Abschied zu nehmen. Ich steige hoch zu meiner »Bühne«.
Es fällt mir dann doch schwerer, als ich es mir vorgestellt habe. Ich bin schwach. Mit ein paar Pausen unterwegs wegen Schweißausbrüchen und plötzlichem wiederkehrendem Stechen irgendwo zwischen Brust und Bauch gelange ich nach einer halben Ewigkeit endlich am Felsentor an und muss noch einmal kurz verschnaufen,bis mein Atem wieder leidlich normal ist – ganz normal geht wohl nicht, dazu bin ich zu aufgeregt.
Schritt für Schritt gehe ich durch die Enge und weiter vor bis auf die Mitte des Plateaus. Die schräge Sonne blendet mich, ich muss die Augen zusammenkneifen. Ziehe den Duft ein, der mich umhüllt: Thymian auf warmem Gestein. Das eifrige Summen von Bienen, die hier ihre Arbeit tun: ein tiefer, gleichbleibender Orgelton.
Da stehe ich nun mit geschlossenen Augen. Weiß ja, dass er fort ist. Aber könnte es nicht sein, dass er an diesem Ort auf mich gewartet hat – damit ich ihm Addio sagen kann?
Ein feines Rascheln im Gras. Ich öffne die Lider. Eine Eidechse! Braun und grün wie ein Edelstein, so lang wie die Spanne zwischen der Spitze des Daumens und des kleinen Fingers, wenn ich die Hand spreize. Ein kleiner Drache. Ob es die gleiche ist, die ich voriges Jahr hier gesehen habe, oder vielleicht schon ihre Tochter oder Enkeltochter? Ich kenne mich nicht aus im Leben der Eidechsen – wie lange man auf der Welt ist, wie schnell man seine Gestalt weitergibt an die nächste oder übernächste Generation, so wie meine Vorväter und ihre Frauen es getan und an mich weitergegeben haben. Meine jüdischen Vorfahren...
»Hallo, du Schöne«, sage ich. »Kannst du dich an mich erinnern? Habe ich dich schon voriges Jahr einmal hier aufgestört? Hast du vielleicht meinen toten Liebsten gesehen? Er hat sonst hier auf mich gewartet. Er ist ein Dibbuk. Sein Name ist Schlomo Laskarow.«
Ich muss lächeln über mich und meine Worte.
Der Name steht in der Luft über dem Orgelton des Bienensummens, es kommt mir so vor, als würde er überhaupt nicht verklingen. Ich warte und warte, obwohl ich ja weiß, dass der Ruf kein Gehör findet. Mein Dibbuk ist fort. Es sind nur die Bienen.
Die Eidechse sieht mich unverwandt an. Ihre Augen sind wie dunkle leuchtende Punkte unter den Echsenlidern. Ihre Kehle pul siert.
»Na«, sage ich zu ihr, »gut, dass wenigstens du da bist. So bin ich doch nicht so völlig allein hier oben.«
Ich setze behutsam einen Fuß vor, aber das nimmt sie mir übel.
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