Drei Zeichen sind die Wahrheit - Band 2
und die Pferde.«
»Was gibst du eigentlich heute?«
»Den zerbrochenen Krug. Das Bauernmädchen Eve.« Der junge Mann pfeift durch die Zähne.
Die Vorstellung ist zu Ende, aber Leonie ist noch auf ihrem Platz, in dieser exklusiven Loge des Burgtheaters, die Angehörigen der Darsteller vorbehalten ist und in der sie diesen Abend ganz allein gesessen hat in ihrer weißen Bluse, zunächst geblendet vomGlanz des berühmten Hauses (Gold, natürlich Gold!), vom Rot der Läufer, den Bildern an den Wänden, den Porträts berühmter Dichter, dem spiegelnden Parkett, dem Samt der Sitze, dem Glanz der Kronleuchter, den fünf Rängen ...
Leonie kennt die Berliner Theater in- und auswendig, sie ist ja fast jeden Abend in eine Vorstellung gelaufen, bevor sie selbst bei der jüdischen Bühne anfing – da war dann keine Zeit mehr zum Zuschauen. Das Schauspielhaus beispielsweise ist ja auch nicht gerade kärglich ausgeschmückt. Aber das ist kein Vergleich.
Soweit beeindruckend. Doch dann das, was auf dieser hochberühmten Bühne passierte ...
Es war so ganz anders als die Sachen, die sie aus Berlin gewohnt war. Die Inszenierung des »Wilhelm Tell« von Jessner im Theater am Gendarmenmarkt zum Beispiel. Das Bühnenbild, das die Schweiz darstellen soll und nur aus Podesten und Treppen vor schwarzen Vorhängen bestand, vor denen sich die ganze Kunst der grandiosen Schauspieler entfalten konnte, schnörkellos und modern, aufs Wesentliche konzentriert. Hier, in dieser Aufführung, war die Szene so voll von Holz und Pappe und angemalten Kulissen, alles möglichst »lebensecht«, dass die Akteure fast darin verschwanden.
Das hat ihr überhaupt nicht gefallen. Aber zum Glück gab’s da Felice Lascari.
Als Frau Pfleiderer an die Tür klopfte, um dem »gnä’ Fräulein« mitzuteilen, dass auf die Nacht die Kutsche für sie angeschirrt sei, um sie zur Vorstellung zu bringen, hatte Leonie erwartet, dass sich ihre Tante in irgendeiner großen Tragödie präsentieren würde, als eine der Königinnen in Schillers »Maria Stuart« oder etwas Ähnlichem. Aber zu ihrer Überraschung stand »Der zerbrochene Krug« von Kleist auf dem Programm, jene Komödie, in der ein liederlicher, korrupter Dorfrichter eine Verhandlung gegen jemanden führt, der bei seiner nächtlichen Flucht aus der Kammer eines Mädchens einen Krug zertrümmert haben soll. Der Richter dreht und wendet sich, denn es wird nach und nach immer deutlicher: Er selbst ist der Delinquent! Das geschah so: Um sichdas Mädchen Eve gefügig zu machen, erpresste er sie, indem er vorgab, ihr Bräutigam solle zu den Soldaten, und er, Dorfrichter Adam, könne das verhindern. Als er nun nachts in Eves Kammer eindringen wollte, überraschte ihn dieser Bräutigam, und auf der Flucht zertrümmerte Richter Adam den Krug – und zerbrach dabei fast auch die Liebe des jungen Paares, denn natürlich glaubte der junge Mann nun, Eve sei ihm untreu.
Leonie nahm an, dass Felice Lascari in der Rolle der Marthe, der Mutter des Mädchens, auftreten würde, jener Frau, die anklagend mit dem Krug vor den Dorfrichter tritt. Aber der Programmzettel, den sie gerade vor dem Erlöschen der Lichter im Saal noch überfliegt, besagt anderes: Ihre Tante spielt die Eve, das junge Bauernmädchen.
Bevor sich der Vorhang hebt und Dorfrichter Adams schludrige vollgekramte Gerichtsstube sichtbar wird, in der er sich das auf der Flucht verletzte Bein verbindet, versucht sie, sich vorzustellen, wie die Frau mit dem hochmütigen Blick, die große Dame von dem Porträt im Salon, eine junge Bäuerin spielen wird. Was wird sie aus der Rolle machen?
Dann betritt diese Eve mit Marthe, einer kleinen rundlichen Person, gemeinsam die Bühne, und Leonie kann sich das Lachen kaum verkneifen: eine lange Latte von Bauernmädchen mit weit ausgreifenden Schritten, unterm hochgeschürzten Rock zeichnen sich die dürren, aber muskelstarken Waden ab. Trotzig eingewickelt in ihr Brusttuch, die Schultern gerade, das Kinn vorgereckt, die Haare versteckt unter der bis zu den Augen gezogenen Haube. Ihre ersten Wechselreden mit dem Dorfrichter sind so kratzbürstig und direkt, als würde sie jemanden auf der Straße mit dem Ellen bogen anrempeln.
Sie macht eine »Type« aus der Eve, denkt Leonie, nachdem die Darstellerin da unten ihre ersten Lacher, den ersten Beifall eingeheimst hat. Ein Trampel, vordergründig und einseitig, keine wirkliche lebens echte Figur. Das, was man ein Klischee nennt. Aber da tut sie Felice Lascari Unrecht, wie
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