Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
geplündert hat.
Die rundliche Clémence ist rot im Gesicht von der Anstrengung.
Als sie Leonie sieht, bremst sie und steht nun da, die Hände am Lenker, einen Fuß am Boden.
Leonie grüßt und will gerade etwas Freundliches über all die herrlichen Einkäufe anmerken, aber die Frau kommt ihr zuvor und sagt mit gerunzelter Stirn: »Ach, Sie sind noch nicht abgereist, Mademoiselle?«
»Warum sollte ich?«, fragt sie verblüfft.
»Merken Sie’s nicht selber?«, sagt die andere ohne Umschweife. »Sie sind eine Boche. Und Sie passen hier nicht her. Sie stören. Das müssen Sie doch fühlen. Sie passen nicht zu Monsieur und Madame.«
Leonie schnappt nach Luft. Ihr fällt nichts ein. »Wie kommen Sie darauf?«, fragt sie schließlich. Sie fühlt sich wie ein abgekanzeltes Schulkind bei diesem unerwarteten Angriff.
Clémence mustert sie von oben bis unten mit ihren wasserhellen Augen. »Das hat doch seinen Grund, dass Sie hier sind«, sagt sie bedächtig mit ihrer leicht heiseren Stimme.
»Ja, gewiss. Man hat mich eingeladen!«, antwortet Leonie und bekommt langsam wieder Oberwasser. Sie fühlt, dass sich ihre Wangen röten.
»Gestern haben Sie hier Fisch gekocht, hat mir Madame gesagt. Und sie behauptet sogar, es hätte ihr geschmeckt. Ha! Höfl ich, wie sie ist. Aber Sie haben hier wirklich nichts verloren. Das ist etwas ganz Besonderes hier. Da gehört niemand hinzu.«
»Wieso kommen Sie auf den Gedanken, ich will hier dazugehören?«
»Mademoiselle! Das ist doch leicht zu durchschauen, worauf das hinausläuft. In Deutschland sieht’s ja nicht so rosig aus und hier können Sie sich ins gemachte Nest setzen.« Und sie zischt zwischen den Zähnen ein Wort, dessen Bedeutung Leonie im ersten Moment nicht weiß: »Captateuse!« Und dann fügt sie hinzu: »Fein, wenn man Verwandtschaft in Frankreich hat!«
Tritt ihr Rad an und rollt an ihr vorbei auf das Haus zu, ohne sie noch eines Blickes zu würdigen.
Jetzt fällt es Leonie ein. Das Wort bedeutet Erbschleicherin.
Denkt die tatsächlich, ich wollte mich hier einnisten wie ein Kuckuck im Vogelnest? Die hat ja keine Ahnung.
Eigentlich müsste man nur darüber lachen. Aber sie ärgert sich. Rennt erst einmal aus dem Tor und hinein in die Weinberge. Eigentlich müsste sie dieser anmaßenden Person ja sofort die Meinung sagen. Wie kann sich diese Clémence nur etwas so Absurdes einfallen lassen! Da kommt ein Mädchen aus Berlin in die Ferien gereist und will ein paar schöne Tage haben, und dann ... Dabei wollen die hier etwas von ihr , nicht umgekehrt!
Diese feindselige Frau ist so etwas wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Nichts wie weg hier.
So wird das nun wohl ihr letzter Spaziergang sein.
Ade, Urlaub, ade, Sonne der Côte Rocheuse, ade Hermeneau und Cerbère – nun noch einmal.
Noch ist Zeit bis zum Abend. Noch ein letzter Gang, um sich vollzusaugen mit der Schönheit dieser Welt. Dann wird sie auch den Mut haben, vor die beiden hinzutreten und ihr Nein auszusprechen.
Diesmal schlägt sie einen anderen Weg ein als den bekannten.
Die Sonne ist schon über den Zenit hinaus, aber es ist noch sehr warm. Die Hitze hat sich zwischen den wilden Weißdornbüschen und den Krüppelkiefern gefangen. Ihr bricht der Schweiß aus den Poren.
Trotzdem geht sie weiter, höher hinauf. Sie will noch möglichst viel sehen von dieser wunderbaren Gegend.
Bald muss sie richtig klettern, zwängt sich zwischen sonnenwarmen Gesteinsbrocken hindurch, die dann eine Art Felsentor bilden. Ihre Mühe wird belohnt.
Plötzlich steht sie auf einer Klippe, die steil zu einer Bucht hin abfällt. Da unten prallt die Brandung gegen den Felsen, Gischt schäumt auf. Zur Rechten versperren Berge den Blick, aber links zieht sich in weitem Bogen die Côte Rocheuse, die Felsenküste hin, Buchten, Häfen, Ortschaften ... Was für eine Entdeckung, was für eine kostbare Stelle! Wenn man nur noch länger bleiben könnte, um noch mehr zu erkunden!
Leonie breitet die Arme aus. Es ist ihr, als stünde sie auf einer großen Bühne, auf der sie gern agieren möchte. Hier oben könnte sie ihre Rollen arbeiten, die Jungfrau von Orléans in den Wind rufen, flüstern, schreien, die Schritte und Gesten einer Lessing’schen Minna von Barnhelm, wie sie es sich vorstellt, ausprobieren. Sie fühlt sich glücklich in diesem Moment.
Es raschelt neben ihr im harten kurzen Gras. Eine der vielen Eidechsen, die hier herumlaufen, huscht auf einen Stein und scheint sie mit gerecktem Kopf
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