Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Frankreich und Österreich waren auf unterschiedlichen Seiten des Konfl ikts, der ganz Europa entzweite, und die Kontakte rissen ab. Es war unmöglich, dass jemand von Wien hier- herkommen konnte. Die Frist war verstrichen.
Aber deine Verwandte gab nicht auf. Noch war es nicht zu spät, noch konnte man etwas Neues berechnen. Wir mussten versuchen, ein anderes Mädchen, eine andere junge Frau aus der Familie zu finden, eine, die ›passte‹.
Ich betrieb Ahnenforschung, um Isabelle zu helfen, Leonie. Und schließlich fand ich über viele Umwege: dich. Eine junge Tochter als Nachfahre des ›Berliner Bruders‹.
Du, Leonie, nach kabbalistischen Erkenntnissen auserwählt, imJahr dreiundzwanzig mit der Suche nach den Buchstaben zu beginnen – neun Jahre nach dem missglückten Versuch 1914. Neun war die Quersumme der drei Zeichen. Also 1923.
Deshalb bist du hier. Und nun kannst du in den Zug nach Paris steigen, wenn du willst, oder ... «
Er sieht sie an. »Dass du es noch einmal überdenkst. Das ist alles, worum ich dich bitte, wenn ich denn etwas bitten darf. Dass du diese Nacht noch bleibst und dir anhörst, was wir dir bieten würden als Dank für deine Arbeit, bevor du morgen oder übermorgen zurückfährst nach Haus und Isabelle mit ihren gescheiterten Hoffnungen allein lässt.«
Wortlos steht Leonie auf, greift ihren Hut und ihren Koffer. »Den Koffer trage ich!«, sagt Gaston.
Sie schüttelt stumm und energisch den Kopf.
Gemeinsam verlassen sie den nächtlichen leeren Bahnhof. Um die Bogenlampen draußen kreisen die Nachtfalter, vollführen ihre taumelnden Tänze. Lavendelduft, Wärme. Sterne am Himmel.
Leonie fährt zurück nach Hermeneau.
8
»Du hast sie zurückgebracht?«
Gaston nickt und lässt sich neben seiner Frau in einen Sessel sinken. Die Müdigkeit hat tiefe Ringe um seine Augen gezeichnet.
Isabelle hat sich zwar schon für die Nacht hergerichtet, ist aber noch nicht zu Bett gegangen. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch über Zeichnungen und Tabellen in einem seidenen Negligé, sanfte Creme farbe, in dessen Falten sich das Licht der Lampe bricht; ihr langes Haar fällt offen über ihre Schultern. Auch sie wirkt müde und ange spannt und zwischen ihren Brauen zeigt sich eine steile Falte. Aber ihre Augen sind wach und glänzend.
Sie dreht sich zu ihrem Mann herum und greift mit ihren beiden Händen nach seiner Hand. »Danke, Gaston! Wie hast du ...« Sie stockt, sieht ihn forschend an. »Hast du ihr etwas versprochen?«
Er schüttelt den Kopf, ein bisschen verwundert. »Wie sollte ich ihr etwas versprechen, wenn sie noch nicht entschlossen ist? Das wäre ja so etwas wie Erpressung.«
Isabelle legt den Kopf schief. »Gegen ein bisschen Erpressung würde ich in diesem Fall gar nichts haben. Die Zeit hat Flügel, und wenn mir etwas fehlt, dann Geduld.«
»Ich weiß. Ich weiß das alles. Aber was bringt es denn, wenn sie nicht wirklich überzeugt ist.« Er schließt die Augen. »Ich bin müde. Ich hab viel reden müssen.«
»Was hast du ihr erzählt?«
»Vieles. Die Geschichte deiner Familie. Die Geschichte der drei Zeichen. Unsere Geschichte. Deine Geschichte.«
Sie runzelt die Stirn. »Hast du sie erschreckt?«
Er schüttelt den Kopf. »Du kennst mich. Ich gehe alles mit Sanftmut an.«
Isabelle lässt sich aus ihrem Stuhl gleiten, hockt vor Gaston, seine Hand noch immer umschlossen von ihren zehn Fingern, sieht zu ihm auf. »Ja, mon cher, ich weiß. Mit Sanftmut und Beharrlichkeit.« Sie schmiegt ihre Wange an seine Hand. »Du hast ihr nicht zu viel erzählt von meinen ... meinen Visionen?«, fragt sie leise, ängstlich.
»Nur das Notwendige. Irgendwie musstest du ja wieder glaubwürdig werden in ihren Augen, nachdem du sie so – aufgescheucht hast!« Plötzlich lächelt er. »Als ihr euch da oben gegenübergestanden habt im Turmzimmer wie zwei Kämpferinnen, da fi el mir erst so recht auf, wie sehr sie dir ähnlich sieht. Als du jung warst, Belle, da warst du eine Leonie.«
Sie geht nicht auf seinen Ton ein. »Gaston, mein Lieber. Wir müssen sie locken und drängen gleichzeitig. Sie muss es einfach tun!« In ihren Augen ist Angst.
Gaston beugt sich vor, küsst sanft ihre Stirn. »Ich glaube, es ist ein Mädchen, auf das man sich verlassen kann, wenn es von etwas überzeugt ist. Aber nur dann. Morgen ist Freitag, Sabbatbeginn. Das passt sehr gut. Da kann sie noch ein bisschen über dich und über sich erfahren, was ihre Entscheidung beeinfl ussen könnte.« Er steht auf, zieht
Weitere Kostenlose Bücher