Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Flügeln eilt Leonie über den Platz. Sie muss nach Haus, nach Neukölln, in die kleine ärmliche Wohnung, in die sie gezogen sind, nachdem der Vater seine Arbeit verloren hatte. Ärmliche Wohnung? Egal heute. Nur noch zwei Nächte, dann geht es los.
Ich renne los mit allem Schwung, den mir der grandiose »Tell« heute Abend verliehen hat, die Treppen zur U-Bahn hinunter, umden einfahrenden Zug noch zu kriegen, und ich schaffe es auch richtig, bevor sich die Türen schließen, mich in den letzten Waggon zu katapultieren. Weder heute Abend noch morgen und übermorgen kann mir etwas schiefgehen, das weiß ich.
Es ist heiß in den Wagen. Die U-Bahn ist um diese Zeit noch einmal voll. Ich sehe mich um. Die meisten Theateraufführungen und Konzerte sind jetzt aus, Deutsches Theater, Kammerspiele, das Opernhaus, alles in der Nähe ... Es sind Leute, bei denen man sich wundert, dass sie nicht mit dem Automobil (wenn’s geht, mit Chauffeur) unterwegs sind, Damen mit kühnen Federn an der Kappe und in dünnen Seidenstrümpfen, wo sich an den Waden silbergestickte Schmetterlinge hochranken, Herren in Abendmantel und Zylinder. Da sitzen sie neben hemdsärmeligen Mannsbildern mit breiten Hosenträgern und zwischen Frauen in abgeschabten Fähnchen und blättern in ihren Programmheften, tun so, als wenn sie das arme Volk gar nicht wahrnehmen würden; dabei hat es ja bei ihnen auch nicht für was Besseres gereicht als für den Stadtverkehr.
Ich amüsiere mich im Stillen. Leute zu beobachten, ist mein Leben, ich bin geradezu gierig darauf, die Haltungen und Gesten anderer zu studieren und zu Haus vorm Spiegel nachzuahmen. Wenn man Schauspielerin werden will, muss man wissen, wie sich Menschen verhalten.
Ich lehne an der Durchgangstür – Sitzplatz war keiner mehr da – und mustere die gleichmütigen, die hochnäsigen, die müden Mienen der anderen Fahrgäste. Wenn die wüssten, mit was für einem Glückskind sie zusammen in diesem U-Bahn-Zug sitzen! Ein Kleid werde ich mir kaufen morgen, aus einem Stoff, der nicht knittert und knautscht wie der kunstseidene Fummel, den ich jetzt trage, dieses Ding mit den Schwitzfl ecken unter den Armen und im Rücken!
Ein junger Mensch, blass, mit Bartstoppeln im Gesicht, schiebt sich durch den Wagen, er hält mit demütig gesenkten Augen den Leuten seine Mütze unter die Nase. Zu sagen wagt er nichts, denn Betteln und Hausieren ist in der Bahn behördlich verboten.
Niemand nimmt Notiz von ihm, man dreht den Kopf weg. Michregt so etwas auf. Demonstrativ lächele ich ihm zu und lege etwas in die speckige Kopfbedeckung; lächerliche vierzig Mark, die heute vielleicht zehn Pfennig Vorkriegswährung wert sind und morgen noch weniger. Ich hätte ihm heute in meinem Überschwang wohl sogar von der kostbaren »Valuta« gegeben. Aber Gott sei Dank schleppe ich die nicht mit mir herum ...
Einkaufen und verreisen!
Und dann kommt noch ein Drittes dazu, was mich frei und fröhlich macht: Es ist vorbei mit der Schule. Vater und ich haben beschlossen, dass ich jetzt, nach der zehnten Klasse der Mittelschule, aufhöre, die »Bank zu drücken«. Ein Aufatmen! In Deutsch, Musik und Sprachen konnte ich glänzen, in den Naturwissenschaften brachte ich immer nur mit Mühe eine Drei zustande. Und diese Lehrerinnen, korrekt, als hätten sie einen Stock verschluckt, schnell bei der Hand mit Strafen ... Bloß gut, dass ich die los bin. Wirkliche Freundinnen gab es auch keine. Die Mädchen in der Klasse fanden alle meinen »Theaterfi mmel« übertrieben, hatten ganz andere Interessen. Nun aber: Ich muss Geld verdienen, sobald ich aus dem fremdländischen Süden zurück bin. Und darauf freue ich mich. Natürlich werde ich mir etwas am Theater suchen, irgendeine Hilfsstelle wird sich schon finden! Ob Garderobe oder Requisite, alles gleich, Hauptsache, ich kann Tag für Tag, Abend für Abend so ein Haus betreten. Diese Luft schnuppern, auch wohl mal hinter der Bühne sein, eine Probe mit ansehen, und wer weiß, was sich noch so ergibt.
In meinen Träumereien hätte ich beinah verpasst, umzusteigen. Im letzten Moment schlüpfe ich noch zwischen den sich schon schließenden Türen hinaus, laufe durch Gänge und über Treppen, vorbei an schlafenden Obdachlosen, springe über einen Betrunkenen, der quer auf der ganzen Breite einer Stufe liegt. Jemand ruft mir hinterher: »Hallo, hübsches Fräuleinchen, wohin denn so eilig?«
»Nach Haus!«, erwidere ich lachend und erwische auch glücklich meine
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