Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Kindermädchen in gestärkter Schürze schiebt den Wagen mit dem ihr anvertrauten Baby gemächlich zu einer Bank dahinten unter den Platanen. Die mit hellgrauem Sandstein verkleideten Häuser mit ihren Stuckornamenten werfen scharfe Schlagschatten. Alles hier ist sehr gediegen, sogar das Straßenpfl aster der anthrazitfarbenen Bürgersteige wirkt wie poliert. Wer hier wohnt, der hat ausgesorgt.
Das Haus Ecke Wallstraße mit den schmiedeeisernen Balkonen steht den anderen in nichts nach. Hier also wohnt Schlomo Laskarow.
Leonie öffnet die schwere Eingangstür. Beletage, hat Madame gesagt. Mit klopfendem Herzen bewegt sie die Türklingel, ein Ring in einem bronzenen Löwenmaul neben dem unübersehbaren Emailschild »M. Laskarow, Theaterdirektor«.
Zunächst einmal rührt sich nichts. Offenbar ist elf Uhr für dieses Volk eine frühe Stunde. Am Türknauf hängt ein Beutel mit Brötchen, und ein ganzer Haufen Briefe und Zeitungen verstopft den neben der Tür angebrachten Briefkasten. Er steht offen, und sie registriert, dass hier der »Völkische Beobachter« gelesen wird, die Lieblingszeitung ihres Vaters.
Beim dritten Klingeln endlich wird geöffnet, und die Dame des Hauses, die üppigen Rundungen von einem Negligé aus geblümterChinaseide umhüllt, das Haar offenbar frisch blondiert und onduliert, sagt: »Ewiger! Bist du pünktlich! Ja, ihr Preußen! Na, komm in die Küche, Puppchen!«
Schnell greift Leonie den Brotbeutel und den Inhalt des Briefkastens und trägt alles mit hinein (sich von Anfang an anstellig und befl issen zeigen, ist die Devise). In der Diele hängt an der Wand ein Telefon, ein wahres Ungetüm aus Mahagoniholz und Kupfer. Das hat heutzutage nicht jeder.
Madame geht vor ihr her in die Küche. In die Küche? Das lässt sich gut an. Zu Küchen hat sie schließlich ein gutes Verhältnis, und mit Leuten, die in ihrer Küche sitzen, fühlt sie sich gleich ein bisschen vertrauter.
Die Raum ist groß, behaglich – und entsetzlich unordentlich.
Negativposten: Das ungespülte Geschirr von mindestens zwei Tagen steht in der Spüle, auf dem Herd Töpfe mit Essensresten, das Frühstücksgeschirr vom Vortag ist auf der einen Hälfte des riesigen Tischs zusammengeschoben. Nicht zugeschraubte Marmeladengläser, vertrocknete Käsescheiben, deren Ränder sich nach oben biegen, eine große Schüssel mit schwarzen Oliven, gemischt mit mariniertem Knoblauch unter einem Glassturz, daneben eine halb geleerte Schüssel Schokoladenpudding. (Chaotisch. Tja, wenn man sein Mädchen gerade rausgeschmissen hat ...)
Positiva: Die Sonne, die gerade ins Fenster scheint, lässt eine herrliche Batterie von Pfannen und Töpfen aus Kupfer erstrahlen. Es gibt ein fürstliches Gewürzregal. Und Leonie registriert zwei Eisschränke wie auf Schloss Hermeneau. (Warum das so ist, hat sie Isabelle vergessen zu fragen. Vielleicht kriegt sie es hier raus.) Um den Tisch gibt es mit Polstern belegte Stühle. Und es duftet unglaublich gut nach frisch gebrühtem Kaffee. Zu Hause gibt’s seit langem nur noch Muckefuck...
Auf dem freigeräumten Teil des Tisches steht eine große Kaffeetasse aus feinem Porzellan, dazu Zuckerschale und Milchkanne, beides aus Silber. Daneben liegt eine aufgeschlagene Zeitschrift mit ei nem Kreuzworträtsel, halb gelöst. Bestimmt die Morgenbeschäftigung der Hausherrin.
»Willst du auch?«, fragt die Madame und hebt einladend die Kanne vom Stövchen. »Tassen sind dahinten.«
»Nein, danke, gnädige Frau«, sagt Leonie artig. Sie legt die Zeitungen und Briefe ab, erspäht einen Brotkorb auf der Anrichte und tut die frischen Brötchen hinein. »So eine schöne Küche!«, sagt sie bewundernd. »Wäre es Ihnen recht, wenn ich zu Anfang ein bisschen aufräume hier?«
»Tu dir bloß keinen Zwang an!«, sagt die Laskarow spöttisch und überrascht. Sie traut es mir nicht zu, denkt Leonie. Na, warte!
Ihre Fähigkeit, ein Chaos zu überblicken, lässt sie auch hier nicht im Stich. Im Nu ist das schmutzige Geschirr vom Tisch und mit dem aus der Spüle daneben »in der Reihenfolge ihres Auftritts« sortiert. Gläser – Fettarmes – Teller – Besteck – Töpfe.
Leonie schließt Schraubverschlüsse und Deckel, säubert den Tisch, stellt alles, was zum Frühstück gebraucht wird, wieder zurecht, schiebt den Korb mit den frischen Brötchen in die Mitte, legt Gedecke auf – sie braucht kein einziges Mal zu fragen, wo etwas ist; so viele Möglichkeiten hat eine Küche nicht. Dann räumt sie die Lebensmittel
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