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Dreibettzimmer: Roman (German Edition)

Dreibettzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Dreibettzimmer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Glubrecht
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    Nach zehn Stunden komme ich völlig erschöpft im Heimatdorf des Kindesentführers an. Die Adresse auf meinem Zettel führt zum einzigen Gasthof weit und breit. Besitzer ist die Familie Béla. War klar: einmal Gastro, immer Gastro.
    Eine hübsche Ungarin namens Zsófia, die praktischerweise ein wenig Deutsch spricht, begrüßt mich an einer kleinen Rezeption zwischen der Gaststube und der Treppe zu den Zimmern. An den Wänden entlang der Stufen ziehen sich Regale bis zur Decke, auf denen rote Gulaschkessel aus verschiedenen Jahrzehnten wie Trophäen aufgereiht sind. Zsófia stellt sich als kleine Schwester von Herrn Béla vor, sie mag ein paar Jahre jünger sein als ich. Mit einem hübschen Lächeln drückt sie mir den Schlüssel für »das letzte Zimmer« in die Hand. Sie erzählt mir, dass etwa in einer Stunde im Hotel eine Familienfeier steigen soll, weil gestern der »verlorene Sohn heimgekehrt« sei.
    »Der verlogene Sohn wäre treffender«, bemerke ich sauer.
    Sie sieht mich erstaunt an.
    »Ach, vergessen Sie es. Hatte er meine verlorene Tochter dabei?« Wieder dieser verwunderte Blick. Aber sie wird ihren Bruder eh nicht verraten.
    Wahrscheinlich hat Nadine Leonie nichts angetan. Wer die ganze Zeit von eigenen Kindern spricht, gibt bestimmt auch gut auf entführte Kinder acht.
    Ich erkläre Zsófia, dies sei eine persönliche Angelegenheit zwischen mir und Herrn Béla. Sie nickt und drückt mir einen Schlüssel in die Hand. Vielleicht sollte ich besser gleich die örtliche Polizei verständigen – hoffentlich spricht da jemand Englisch.
    Nachdem ich heute bis zum Nachmittag etwa vierzigmal mit Anne telefoniert habe, ohne gute oder schlechte Neuigkeiten, ist mein Akku leer. Das Handy hat sich einfach selbst abgeschaltet. Klar, ich hätte auch von der Tankstelle aus anrufen können, aber zum einen wollte ich so schnell wie möglich Herrn Béla finden, und zum anderen hatte ich auch ein wenig Angst vor schlechten Nachrichten über Leonies Schicksal.
    Jetzt stöpsele ich das Ladegerät ein, mein Display leuchtet wieder: einundzwanzig Anrufe in Abwesenheit – die Hälfte von Anne, die andere von der Rezeption des »Wilden Mannle«. Leider bricht auf dem Zimmer immer wieder das Netz weg – kein Wunder, hier in der ungarischen Wildnis. Also nichts wie runter zu Zsófia, die besitzt bestimmt ein richtiges Telefon. Ich poltere die Treppen hinab, ohne die Zimmertür abzuschließen.
    Unten staut sich bereits die ungarische Großfamilie: Bestimmt dreißig bis vierzig Männer, Frauen, Jungs, Mädchen, Omas und Opas in farbenfroher Festgala mit Flaschen und Blumen in den Händen strömen an der Rezeption vorbei in den Gastraum.
    Zsófia schaut mich über die Köpfe hinweg an, deutet mit dem Finger auf mich und ruft etwas auf Ungarisch. Augenblicklich bleiben alle stehen.
    Die Blicke der versammelten Familie Béla richten sich mit einem Schlag auf mich. Ein paar Jungs wollen auf mich losstürmen, zum Glück werden sie von älteren Männern zurückgehalten. Sonst hätte ich mir wohl auf der Rückfahrt in einer der Grenzstädte neue Zähne kaufen müssen. Die sollen dort ja viel billiger sein als in Deutschland.
    Herr Béla drängelt sich aus dem Schankraum durch die Tür, schiebt sich durch Brüder, Schwestern und Neffen, bis er an der Rezeption ankommt. Ich stehe über ihm auf der Treppe. Er sieht aus wie immer, hat sogar dieses vertrauenerweckende Lächeln auf dem Gesicht. Aber wer jemals »Aktenzeichen XY« gesehen hat, weiß, dass Kindesentführer genau so aussehen. Wenn er mich attackiert, kann ich diese Position bestimmt eine Weile verteidigen – auch gegen die Überzahl seiner Familie. Vielleicht nicht so lange wie die Spartaner damals die Thermopylen, aber zumindest länger als die ungarischen Grenzer bei der Wiedervereinigung. Muss überlegt handeln.
    »Du hast sie entführt!«, schreie ich ihm entgegen. Gut, vielleicht reagiere ich ein wenig über, aber es war ein langer Tag. Ich bin zig Stunden Auto gefahren, habe mit ziemlicher Sicherheit meinen Job verloren, mein Chef betrügt mich mit meiner großen Liebe und wahrscheinlich auch umgekehrt. Den Familiencontest habe ich verpasst, und jetzt belegen all diese Erziehungsregeln wichtigen Platz in meinem Kopf – aber das ändert nichts daran, dass dieser Kerl Leonie entführt hat!
    Herr Béla hebt die Hände.
    »Sie ist freiwillig mitgekommen«, behauptet er. Der hat sie wohl nicht alle!
    »Natürlich ist sie freiwillig

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