Dreibettzimmer: Roman (German Edition)
Leonie?«, frage ich.
Anne schüttelt den Kopf. Ein heftiger Schluchzer, wie er kleine Kinder nach bitteren Heulanfällen heimsucht, schüttelt ihren Körper.
»Wo ist Leonie?«, brülle ich.
»Ich weiß es nicht!«, brüllt Anne zurück.
Sie erzählt mir, dass sie gerade an ihrem Artikel schrieb, als Frau Sommer sie in die Reicher-Onkel-Suite bestellte.
»Dauert nur fünf Minuten«, hatte sie Mr. Perfect versprochen, woraufhin der sich bereiterklärt hatte, genau so lange zu warten. Als sie wiederkam, stand die Tür offen, das Zimmer war durchwühlt und Leonie verschwunden. Also rief sie Leonhardt auf dem Handy an. Der sagte ihr, er habe fünf Minuten ausgeharrt und dann Leonie das Versprechen abgenommen, »ganz brav auf die Mama zu warten«, die jeden Moment zurückkommen müsse. Dann sei der Empfang abgebrochen.
»Das Zimmer ist kindersicher, und Leonie kommt ja noch gar nicht an die Türklinke!«, schluchzt Anne. Sie ist schon durch das ganze Hotel gelaufen, hat gerufen und gesucht – vergeblich.
Ich nehme sie in den Arm. Aus dem Tissue-Halter hole ich ein Tuch und putze ihr die Nase. Dann zeige ich ihr Nadines Brief.
Aber Anne ist offenbar immer noch zu durcheinander, um einen klaren Gedanken zu fassen.
»Die haben deine Tochter entführt«, erkläre ich mit zitternder Stimme. »Herr Béla hat doch gesagt, er würde Leonie am liebsten adoptieren! Der war ganz versessen auf sie. Außerdem hat er die Schlüssel zu allen Zimmern. Und Nadine hat in Ungarn studiert. Sie schreibt, sie hätte ein kleines ›Andenken‹ mitgenommen.« Ich zeige Anne das Postskriptum in Nadines Brief.
Anne reißt mir das Blatt aus der Hand.
»Das kann nicht sein. Nadine war meine Kollegin. Wir waren fast so etwas wie Freundinnen.«
»Sie ist eine wahnsinnige Stalkerin. Als ich auf der Paleo-Wanderung war, wie hat sie auf Leonie reagiert? Worüber habt ihr bei eurem Mädelsabend geredet?« Am liebsten würde ich Anne schütteln. »Denk nach!«
Annes Blick richtet sich nach innen.
»Sie hat gesagt, wenn sie jemals eine Tochter bekommen würde, dann sollte die genau so sein wie Leonie.«
»Siehste!«
Wir laufen in meine Suite und erklären Frau Sommer, dass Leonie verschwunden ist. Alarmstufe dunkelrot. Wenn es um verlorene Kinder geht, funktioniert die Solidarität anscheinend noch: Das restliche Personal und die verbliebenen Gäste schwärmen sofort aus und suchen. Auch ein paar von den Klatschreportern helfen tatkräftig mit – wobei nicht ganz klar ist, ob sie das für Leonie oder für eine neue Skandalmeldung machen.
Doch Annes Tochter ist nirgends zu finden, weder auf dem Parkplatz, wo jetzt die ersten Kollegen ihre Live-Einschätzungen der Lage proben, noch im Spa, wo sich der Psychologe im Whirlpool auf seinen nächsten Auftritt als Experte vorbereitet.
»So ein Hallodri!«, flucht Frau Sommer in ihrem Büro und greift zum Telefon. »Herr Béla war die vielseitigste Servicekraft, die ich je hatte. Aber der Laden wird ja eh verkauft. Ich rufe jetzt die Polizei.«
Anne kommt ihr zuvor. »Die ermitteln doch erst nach vierundzwanzig Stunden.« Sehnsüchtig sieht sie zur Tür. Aber Leonhardt joggt heute offenbar die große Runde. Oder er wartet mal wieder ab, bis sich Annes Probleme von selbst erledigt haben. Ich treffe einen Entschluss.
»So, ich fahre jetzt nach Ungarn und finde Leonie. Außerdem habe ich heute Abend eh nichts vor«, lüge ich. Denn eigentlich wollte ich natürlich in der finalen Befragung zum Familiencontest zeigen, dass ich kein kompletter Arsch bin, sondern etwas über das Miteinander gelernt habe. Aber warum eigentlich? Ich muss hier niemandem etwas beweisen. Anne hat sich für Mr. Perfect entschieden und ich mich, wenn auch zwangsweise, für die Lonesome-Cowboy-Nummer. Hier geht es um Leonie. Auf den Familienwettbewerb kann ich verzichten. Ich bin schon Ehrengast und Paleo-Sonderbotschafter. Klar, das Triple mit dem Platinbubsi wäre reizvoll, aber Leonie ist mir wichtiger. Ich werfe Anne einen langen Blick zu: einen Abschiedsblick.
»Den Bubsi gewinnst du mit deiner echten Familie. Ihr habt ihn euch wirklich verdient.«
Anwendungen, Abwendungen & Zuwendungen
Györgiyszkopapázentlászló, das Dorf, aus dem Herr Béla stammt, liegt an der Grenze zwischen Ungarn und Rumänien. Zum Glück stand eine Adresse auf seinem Arbeitsvertrag. Laut Routenplaner fährt man dorthin sieben Stunden und fünfundvierzig Minuten – zuzüglich der Zeit, die man braucht, um den Namen des Dorfs korrekt ins
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