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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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persönlich hat erklären müssen, weil man im Krieg ist, was er noch besonders betonen musste. Es war ein Fehler, den Brief aufzubewahren. Sie hätte ihn gleich, nachdem sie ihn gelesen hatte, wegwerfen sollen, doch aus irgendeinem ihr unerklärlichen, ärgerlichen Grund hat sie sich nicht von ihm trennen können. Sie hat den Verdacht, dass ihr Sohn ihn mitsamt dem Geld gestohlen hat. Dimitri und Anna verbergen voreinander, was sie über ihren älteren Sohn zu wissen glauben.
    Roman steht vom Tisch auf, bevor die Eltern zu Ende gegessen haben.
    »Wo willst du hin, mein Lieber?«, fragt Anna.
    »Ich bin fertig.«
    »Aber wir noch nicht.«
    »Lass ihn gehen«, sagt der Vater.
    Roman geht in sein Zimmer und macht die Tür zu.
    »Einer in diesem Haus muss doch etwas Benimm lernen. Oder soll es mit ihm genauso enden wie mit seinem Bruder?«, gibt Anna zurück.
    »Du hast Maxim verdorben. Du hättest doch alles für ihn getan. Er war immer dein Liebling.«
    »Wovon redest du?«, erwidert Anna mit gedämpfter Stimme, damit Roman sie nicht hört, und bedeutet ihrem Mann mit einer Handbewegung, leiser zu sein.
    »Du weißt nicht zufällig, wo er sich herumtreibt?«
    »Wieso? Weißt du es denn?«, fragt sie.
    »Vielleicht.«
    Anna ist erschrocken. Sie hat Angst, eine falsche Frage zu stellen, die sie verraten könnte, aber dann fragt sie doch: »Hast du ihn gesehen? Was hat er gesagt?«
    »Er? Nichts. Ich habe Maxim schon genauso lange nicht gesehen wie du.«
    »Was weißt du denn dann?«
    »Erst muss ich Gewissheit haben.«
    Die Antwort verunsichert und ängstigt Anna noch mehr. »Gewissheit worüber?«
    »Warte ab, bis ich es überprüft habe.«
    »Was verheimlichst du mir?«
    Jetzt ist es Dimitri, der sich über die Frage und Nervosität seiner Frau wundert. Von Berufs wegen hat er gelernt, keinem zu trauen und zwischen Unschuldigen Schuldige auszumachen. Was er dann mit erhobenen Augenbrauen sagt, ist eine automatische Erwiderung, die jedoch sofort Wirkung zeitigt: »Das frage ich dich.«
    Anna steht wortlos auf und beginnt abzuräumen. Sie ist verlegen. Als sie aus der Küche zurückkommt, sitzt ihr Mann über den Suppenteller gebeugt und löffelt, bis auf das Schlürfgeräusch stumm, den restlichen Borschtsch. Sie betrachtet den breiten Nacken, das rötliche Muttermal knapp unterhalb des Haaransatzes. Am liebsten würde sie ihn in den Rücken knuffen.
    »Du folgst noch immer der Logik einer untergegangenen Welt. Du misstraust dir selbst. Das muss furchtbar sein. Bis an dein Lebensende wirst du misstrauisch sein. Du tust mir leid.«
    »Es ist noch immer dieselbe Welt. Und es sind dieselben Menschen, nur in anderen Rollen.«
    »Vielleicht solltest auch du eine andere Rolle einnehmen.«
    »Ich habe gerade eine neue Ermittlung abgeschlossen.«
    »Und wer ist dieses Mal das Opfer?«, fragt sie sarkastisch, während sie ihrem Mann den Teller wegnimmt.
    »Jemand, von dem ich es nicht erwartet habe.« Er zündet sich eine Zigarette an.
    »Mal was anderes«, erwidert sie, während sie in der Küche kurz den Teller ihres Mannes abspült.
    »Die Vorschriften haben sich nicht geändert, die gelten noch immer.«
    »Während Leute wie Markow von der neuen Situation profitieren, verplemperst du deine Zeit als Wachhund von einem, der sich darauf spezialisiert hat, Kollegen auszuspionieren.«
    »Meine Stelle ist nicht so gefährlich.«
    »Ein Bürokrat beim Geheimdienst. Du solltest dir ein Beispiel an deinen Kollegen nehmen.«
    »Wen meinst du?«
    Anna überlegt kurz, ihr fällt kein anderer Name ein: »Zum Beispiel Markow. Der hat ein Vermögen gemacht. Deren Zukunft ist gesichert.«
    Dimitri zieht an seiner Zigarette, stößt langsam den Rauch aus.
    »Da bin ich nicht so sicher.«
    »Wieso nicht?«, fragt sie.
    Er zuckt die Achseln. Es ist der Gipfel an Ironie. Anna hat ausgerechnet das schlechteste Beispiel genannt, genau das, worauf sich die Argumente ihres Mannes beziehen. Sie versteht. Sie kennt ihn.
    »Markow hat dich doch zum FSB geholt. Du hast ihm so ziemlich alles zu verdanken.«
    »Ich habe Monate an diesem Dossier gearbeitet. Habe dafür geschuftet. Ganz allein Beweise beigebracht, damit nichts durchsickert. Er ist nicht als Einziger in die Sache verwickelt. Da werden noch mehr Köpfe rollen.«
    »Und was ist mit Nadja und den Kindern?«
    »Er kannte die Vorschriften und ist das Risiko eingegangen. Das gehört zum Spiel. Je weniger du aufsteigst, umso weniger tief kannst du fallen.«
    »Weiß er es schon?«
    Dimitri hebt

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