Dreihundert Brücken - Roman
ohne gewisse Schwierigkeiten einen Satz über das glorreiche Vaterland ab. Das ist Teil des Wettbewerbs. Gedankenverloren sucht Anna aus Gewohnheit nach Maxims Gesicht in der Menge. Sie hat vergessen, dass es sich um eine Wiederholung vom letzten Sommer handelt. Sie vermutet, dass ihr älterer Sohn solche Partys besucht. Ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, und sie kommt auch gleich wieder zu sich, als eine der Bewerberinnen gellend schreit: »Wir werden der Welt zeigen, wer wir sind, Mütterchen Russland. Wir werden dafür sorgen, dass die Welt wieder vor uns niederkniet.« Beim Anblick des Moderators, der mit offenem Mund vor dem vollbusigen Mädchen kniet, das unter dem Applaus des Publikums sein Oberteil abzulegen droht, schaltet sie den Fernseher aus. Nun gibt es nichts mehr, was sie von der Benachrichtigung ablenken kann, die am anderen Tischende liegt.
Der Brief wurde auf ziemlich ungewöhnliche Art von einem Flüchtlingslager in Inguschetien aus auf den Weg gebracht. Dies ist der einzige Grund, weshalb sie zum Hauptpostamt bestellt wurde. Aber das weiß sie nicht, als sie dort erscheint. Sie soll erklären, von wem der Brief kommt, da man sich im Krieg befindet. Hätte Anna gewusst, worum es geht und dass der Brief aus dem Kaukasus kommt, wäre sie niemals zur Hauptpost gefahren. Aus reiner Unvorsichtigkeit ist sie in der Pochtamtskaya-Straße erschienen, als hätten die zwanzig Jahre, in denen sie keine Briefe geöffnet hat, sie nicht auf den Augenblick vorbereitet, da sie am meisten auf der Hut hätte sein müssen. Ausgerechnet in einem Moment, als ihr das nicht hätte passieren dürfen, hat sie nicht aufgepasst – vielleicht, weil ihr jeder Vorwand recht ist, aus dem Haus zu kommen. Auf der Hauptpost ist sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gewesen, damals ging sie immer mit ihrer Großmutter dorthin, die nach dem Tod ihres Mannes angefangen hatte, jede Woche Briefe zu verschicken, von denen niemand wusste, wohin und an wen. Völlig unbefangen stellt Anna sich zunächst an einem Schalter auf der rechten Seite an, von wo sie, nachdem sie zwanzig Minuten gewartet hat, zu ihrer Überraschung zu einem Amtsleiter geführt wird. Da beginnt sie zu begreifen, was sie erwartet – oder zumindest dämmert es ihr. Sie überlegt, ob sie gehen soll, doch dazu ist es zu spät. Man sagt ihr nicht, worum es geht, bis sie im Büro des Amtsleiters sitzt und dieser sie fragt, ob sie Verwandte in Grosny habe. Und in diesem Augenblick, als sie nicht weiß, was sie sagen soll, wird ihr klar, dass der Mann den Brief gelesen hat. Und was zwanzig Jahre lang jeder, der nichts von ihrem früheren Leben wusste, einer Art Wahnsinn oder Hysterie zugeschrieben hat, erweist sich letztlich als objektiv gerechtfertigt.
Sie errötet und stottert: »Nein. Niemanden.«
»Sind Sie sicher?«
Sie nickt stumm, bemüht, ihre Nervosität zu überspielen.
Der Mann sieht sich, ebenfalls stumm, im Computer das Register von Anna Vassiljewnas Post an. Von ihrem Platz aus kann sie nicht sehen, was er interessiert auf dem Bildschirm liest. Er versichert ihr, die Befragung sei reine Formsache, was sie sicherlich verstehen könne angesichts der ernsten Lage und der Bedrohung der inneren Sicherheit des Landes. Sie nickt erneut verlegen, dann unterschreibt sie das Papier, das er ihr reicht, bevor er ihr den geöffneten Brief aushändigt, mit einem Lächeln, das sie demütigt und entlarvt. Keine Frage, er kennt den Inhalt des Briefes und weiß genau, dass sie gelogen hat. Sein Lächeln hat nichts Komplizenhaftes und schon gar nichts Solidarisches. Das Lächeln des Amtsleiters macht nur Annas Schwäche deutlich. Er hat sie in der Hand. Sie überlegt noch, ob sie ihn um Stillschweigen bitten soll – schließlich weiß ihr Mann nichts davon –, doch dann sagt sie lieber nichts. Stumm besinnt sie sich auf das Wenige an Würde, das sie noch besitzt, steckt den Brief ein und erhebt sich. Von den folgenden gut zwei Stunden kann sie sich an nichts mehr erinnern, so als befände sie sich in Trance oder wäre hypnotisiert. Sie weiß nicht mehr, was der Amtsleiter gesagt hat, als sie gegangen ist, erinnert sich auch nicht an sein sarkastisches Grinsen. Sie weiß nicht mehr, dass sie durch die in der diffusen Helligkeit des riesigen Oberlichts grünliche Halle der Hauptpost gehastet ist, auch nicht, dass sie ziellos die Bolschaja-Morskaja-Straße entlanggelaufen ist, sich schließlich gegenüber den verlassenen Ruinen der Werften von Neu-Holland, fünf Meter von
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