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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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einem alten bärtigen Mann entfernt, der dort immer in einem kleinen Boot mit einer improvisierten Rute angelt, über das Geländer der Mojka-Staustufe gebeugt hat und von einem Weinkrampf geschüttelt wurde, wie sie es seit Jahren nicht mehr erlebt hat. Als sie sich nach ein paar Minuten mühsam wieder fasst und sich verwirrt die verschmierte Wimperntusche mit einem Taschentuch aus dem Gesicht wischt, nimmt sie all ihren Mut zusammen, holt den Umschlag heraus und liest den im vorigen Monat aus einem Flüchtlingslager in Inguschetien abgeschickten Brief.

4.
Zwanzig Tage später
    R oman sitzt am Wohnzimmertisch, über Bücher und Hefte gebeugt. Er lernt für die Abschlussprüfungen, als es klingelt. Seit die Arbeiten an der Hausfassade begonnen haben, muss er auch tagsüber das Licht einschalten. Er ist allein zu Hause. Die Mutter verbringt die Tage außer Haus. Sie sagt, die dunkle Wohnung bedrücke sie, ebenso das matte Lampenlicht im Gegensatz zu dem Sonnenlicht draußen. Im Grunde, glaubt Roman, ist ihr dies nur ein weiterer Vorwand, sich nicht um die Wohnung zu kümmern, denn sie wird immer unordentlicher und chaotischer, aber er sagt nichts. Die Mutter ist empfindlich. Neuerdings macht sie nicht nur keine Briefe auf, sondern öffnet auch die Tür nicht. Sie wird immer nervöser. In dem geschützten Raum des Wohnzimmers, mit Stöpseln im Ohr, um den Baulärm nicht zu hören, verliert Roman meistens das Gefühl für die Zeit. Erst wenn der Vater am späten Nachmittag von der Arbeit kommt oder die Mutter vom Einkaufen, wird er sich der Umwelt bewusst und stellt fest, dass es Abend ist. Maxim lässt sich seit fünf Tagen nicht sehen. Vielleicht steckt er wieder in Problemen. Er ist in vielem der Mutter ähnlich, und es ist kein Zufall, dass er ihr Lieblingssohn ist. Seit er vor nun fast einem Jahr sein Studium aufgenommen hat, rechtfertigt er sein Fernbleiben mit der Behauptung, er lerne zusammen mit Freunden. Doch als der Vater ihn vor fünf Tagen enttarnte, nachdem herausgekommen war, dass er wegen Fehlens in mehreren Fächern nicht bestanden hat, ist er, ohne weitere Ausreden zu erfinden, einfach abgetaucht. Er wird zurückkommen, wenn es ihm passt. Wenn er etwas braucht, denn Scham kennt er nicht. Maxim ist zwar vier Jahre älter als Roman, aber im Allgemeinen unreifer und weniger verantwortungsvoll. Wenn er nicht da ist, ist es stiller im Haus. Deshalb und weil die Arbeiter heute ausnahmsweise schon um die Mittagszeit aufgehört haben, hat Roman keine Stöpsel im Ohr und kann die Klingel deutlich hören. Er steht auf und geht zur Tür. Ein Mann in einem verdreckten Overall möchte die Hausfrau sprechen. Roman hat ihn noch nie gesehen, aber das will nicht viel heißen. Gewöhnlich achtet er nicht auf die Bauarbeiter vorm Haus. Und dass er sie nicht kennt, ist normal, denn der Bautrupp wechselt häufig, fast jeden Tag taucht ein neues Gesicht auf. Der Arbeiter im verdreckten Overall kann durchaus einer von ihnen sein. Aber im Gegensatz zu den anderen, denen Roman meistens im Hof und, seltener, im Treppenhaus begegnet, ist er nicht von Kopf bis Fuß voller Baustaub. Er sieht aus, als hätte er sich gewaschen und zurechtgemacht, bevor er herkam. Er ist weder klein noch groß, hat schwarze, leicht lockige, glänzende Haare und dunkle Augen. Sein Bart ist kräftig, aber kurz geschoren. Unter dem am Kragenknopf geöffneten Hemd sieht man, dass er eine stark behaarte Brust hat. Seinem Akzent nach vermutet Roman, dass er aus dem Kaukasus stammt, obwohl er sich fließend und in grammatikalisch einwandfreiem Russisch ausdrückt. Ob er gut aussieht oder hässlich ist, dieser Gedanke kommt ihm gar nicht. Er stellt auch keine Ähnlichkeit fest. Der Arbeiter mustert ihn erstaunt. Er hat nicht damit gerechnet, einen Jugendlichen anzutreffen. Roman seinerseits findet es nicht merkwürdig, dass der Arbeiter mit seiner Mutter sprechen will und nicht mit dem Vater. Um diese Tageszeit ist es nur normal, nach der Hausfrau zu fragen. Dimitri ist bei der Arbeit.
    »Sie ist nicht da. Worum geht es? Um die Fenster?«
    Roman hat am Tag zuvor gehört, wie die Mutter zum Vater sagte, wenn es so weitergehe, müssten sie auch die Fenster auswechseln, sie habe das schon dem Vorarbeiter gegenüber angesprochen. Der Arbeiter stutzt einen Moment, dann fängt er sich. Er sagt, ja, es gehe um die Fenster. Wenn die Hausfrau möchte, könne sie die Arbeiten an der Fassade nutzen und zusammen mit den anderen Mietern die Fenster zu einem

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