Dreihundert Brücken - Roman
geboxt hat, einen ordentlichen Hieb. Der Mann stolpert und stürzt. Er wirkt immer verängstigter. Als letzte Drohung hebt er eine Hand gegen den Aggressor. Vielleicht ist es aber auch schon ein Flehen. Nun beginnen die drei, ihn zu treten. Er stößt ein dumpfes Grunzen aus. Maxim steht ein wenig abseits und sieht mit unergründlicher Miene zu. Von weitem ist nicht zu erkennen, ob er entsetzt ist oder fasziniert. Dann ertönt ein Schrei. Er hätte sowohl vom Opfer als auch von einem Passanten kommen können. Doch es ist eine kräftige, angsteinflößende Stimme. Dimitri sieht sich um, als hätte nicht er selbst geschrien, als wäre es nur das Echo des Schreis eines Vorübergehenden gewesen, doch außer ihm ist niemand da. Die jungen Männer hören auf zu treten, sie fürchten, da könnte, für sie nicht zu erkennen, jemand im Dunkeln stehen, sie gehen auseinander und lassen das sich krümmende Opfer auf dem Boden liegen. Wie gelähmt steht Dimitri zwischen den Säulen, er ist zu keiner Bewegung fähig. Der Mann steht auf. Er blutet an der Stirn und aus der Nase. Er ordnet seine Kleidung. Er will so schnell wie möglich weg von dort, bevor jemand die Polizei ruft. Ohne Dimitri im Halbdunkel wahrzunehmen, bewegt sich der Mann schwankend auf ihn zu. Noch immer starr vor Entsetzen bleibt Dimitri stehen, zumal er nun das Gesicht des näher kommenden Mannes erkannt hat. Erst als er nur noch zwei Meter von Dimitri entfernt ist, sieht der Mann ihn auch. Sekundenlang sehen die beiden einander im Halbdunkel in die Augen, und tausend Dinge bleiben für immer unausgesprochen.
Die Folgen treten nicht sofort zutage, doch kleine Anzeichen bei der Arbeit geben Dimitri zu verstehen, dass Dinge, die ihn direkt betreffen, hinter seinem Rücken entschieden werden. Kleinigkeiten entziehen sich seiner Kontrolle; das Dossier, an dem er mit so großem Einsatz gearbeitet hat, wird einem anderen Agenten übertragen, und dieser legt es ohne weitere Konsequenzen zu den Akten; Markow und seine Familie, die mit dem Vorfall an jenem Abend nichts zu tun haben, profitieren dennoch indirekt davon, denn sie genießen weiterhin ihre Privilegien; eine Sitzung wird abgesagt, desgleichen ein Mittagessen, eine Reise nach Moskau usw.
In der Woche nach dem Überfall wird Dimitri zu seinem Vorgesetzten gerufen.
»Sie wissen, dass ich Sie intern immer in Schutz genommen habe. Sie sind der Mann meines Vertrauens. Aber jetzt sehe ich mich in einer heiklen Situation. Ich weiß nicht, was da los ist, doch ich habe ausdrückliche Anweisungen aus Moskau erhalten. Sie sollen die Namen der Rowdys ermitteln, die in der letzten Woche am Mittwochabend bei den Kasaner Kolonnaden ein unschuldiges und ausnahmsweise unbewaffnetes Opfer überfallen haben.« Er betont das Wort »ausnahmsweise«. »Mehr kann ich Ihnen über das Opfer nicht sagen. Ich glaube, Sie wissen, wovon ich spreche, und ich hoffe, Ihnen ist der Ernst der Lage klar. Ich weiß, dass dies nicht in Ihren Aufgabenbereich fällt, aber die Anweisungen aus Moskau sind unmissverständlich. Ich weiß nicht, was Sie an Ihren freien Abenden tun, es geht mich auch nichts an, aber man verlangt, dass Sie die Namen der Aggressoren feststellen.«
Zwei Wochen später wird Dimitri seines Postens enthoben. Er muss seinem Vorgesetzten, mit dem er seit zwölf Jahren zusammenarbeitet, dafür dankbar sein, dass er keine weiteren Einzelheiten von ihm verlangt hat und dass es ihm gelungen ist, ihn in der Stadt zu halten, obwohl er die von Moskau geforderten Namen nicht geliefert hat, worauf die Ermittlungen eingestellt wurden. Er muss in ein anderes Stockwerk und in ein anderes Büro umziehen. Er wird sich nicht mehr mit Staatsgeheimnissen befassen. In fünf Jahren wird ihm wieder gestattet sein, ins Ausland zu reisen. Wenigstens hat Anna einen Grund zum Feiern. Was den Mann betrifft, der hinter seiner Versetzung steckt, wird Dimitri ihm nach jenem Abend bei den Kasaner Kolonnaden nie wieder begegnen, weder im Fahrstuhl noch in den Fluren oder in der Cafeteria, was sonst etwa alle zwei Monate der Fall war. Doch als er von seiner Versetzung – ein Euphemismus für seine Herabstufung – erfährt, wird ihm klar, dass der Mann, obwohl in Moskau stationiert, ihn nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen hat, seit sie einander spätabends draußen vor der Kathedrale erkannt haben. Er erfährt, dass dieser Mann für seinen Abstieg verantwortlich ist. Ein einflussreicher Mann, und er hatte das Pech, mit anzusehen, wie dieser Mann
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