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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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sagte, er wolle nichts anderes, er sei bereit. Und nun, in einer weißen Staubwolke, in einem alten, im Umbau befindlichen Saal, findet er endlich heraus, wovon sie damals sprach. Er blickt auf den vor ihm knienden, eingestaubten Arbeiter mit einem Ring in der Hand. Dem Ring, den Anna nie abgelegt hat, dem Ring, der ihr zufolge ihrer Großmutter gehört hatte. Dimitri sieht den Arbeiter an. Nur ein junger Mann aus dem Kaukasus. Und in seinen Augen steht Demütigung.
    Er kommt nicht zum Abendessen nach Hause. Als er schließlich nach Mitternacht das Schlafzimmer betritt, liegt Anna schon im Bett, schläft aber noch nicht. Sie hat gehört, wie er in die Wohnung gekommen ist, im Flur die Schuhe ausgezogen und die Badezimmertür geschlossen hat, bevor er die Tür zum Schlafzimmer öffnet. Das Licht brennt, sie sitzt im Bett, eine Zeitschrift auf dem Schoß.
    »Du hast nicht Bescheid gesagt, dass du nicht zum Abendessen kommst.«
    Dimitri antwortet nicht.
    »Hättest du nicht Bescheid sagen können?«
    »Ich hatte Probleme.«
    »Bei der Arbeit?«
    »Nein.«
    »Geht es um Maxim?«
    Er antwortet nicht.
    »Hast du ihn beschattet?«
    Dimitri sieht seine Frau an. Als er sie kennenlernte, hatte Anna eigene Ansichten. Nun nicht mehr.
    Wenn er ihr das sagte, würde sie ihn korrigieren, trotz aller Angst, die sie so beherrscht – sie würde sagen, dass sie nie mutig, niemals selbständig gewesen sei, niemals eigene Ansichten gehabt habe. Würde sagen, das sei nichts Neues. Dass sie ihn seit jeher getäuscht habe.
    »Was ist los?«, fragt sie wieder, weil sie keine Antwort bekommt.
    »Das dürftest du besser wissen als ich.«
    Sie blickt auf. Sie ist noch immer hübsch. Dimitri erkennt in Annas Miene die Spuren der Frau, in die er sich verliebt hat, als sie ein Gedicht von Mandelstam vortrug, von dem er noch nie gehört hatte. Er versucht verzweifelt, seine Wut und das Gefühl, betrogen zu sein, zu verdrängen.
    »Was ist?«, fragt sie noch einmal.
    »Das muss ja wohl nicht ich erklären, oder?«
    »Was erklären?« Sie steht auf, legt die Zeitschrift auf den Nachttisch und geht zur Tür, um sich zu vergewissern, dass sie geschlossen ist.
    »Heute habe ich zur Abwechslung nicht Maxim beschattet.«
    Anna lässt die Arme sinken. Sie hat das Gefühl, ihr Körper sei so schwer, dass sie ihn nicht mehr aufrecht halten kann. Aber sie hat auch nicht mehr die Kraft, zum Bett zu gehen und sich zu setzen. Sie ist wie gelähmt. Und sie ahnt, was ihr Mann sagen wird. Er spricht weiter.
    »Heute bin ich nach dem Mittagessen ausnahmsweise nicht wieder zur Arbeit gefahren. Ich bin im Bus nach Wassiljewski gefahren. Lustig, erinnerst du dich an die erste Nacht, als wir gemeinsam darauf warteten, dass die Brücken heruntergelassen werden, damit du nach Hause gehen konntest? Welch ein unseliger Zufall! Es ist alles sehr verändert, findest du nicht auch? Ich bin vor dem Zoologie-Museum ausgestiegen, in ein Haus gegangen, an dem gearbeitet wird, bin die Treppen hinaufgestiegen, und da war die Frau, die ich vor zwanzig Jahren gewählt habe, um sie zur Mutter meiner Söhne zu machen. Sie hat sich dort mit einem Jungen getroffen, der ihr Sohn sein könnte.«
    Anna wendet den Blick ab. Sie kann ihrem Mann nicht in die Augen sehen. Sie unterbricht ihn nicht und widerspricht ihm nicht. Wenn sie anfinge zu sprechen, müsste sie stundenlang reden und ihm etwas weit Größeres offenbaren, was ihm nur das Gefühl geben würde, noch kleiner und minderwertiger zu sein, als wäre er ihrer noch weniger wert. Und das möchte sie unbedingt vermeiden. Sie hat nicht die Kraft, ihm zu antworten, aber sie hat auch keine Wahl.
    »Du hast recht. Der Junge ist so alt, dass er mein Sohn sein könnte.«
    Als sie spricht, sehen beide sofort das Gesicht des Jungen vor sich, das aufgeleuchtet hatte, als er Anna auf der Baustelle erblickte. Als sie ihm den Ring reichte, hatte sie gesagt: »Das ist das Einzige, was ich in all diesen Jahren von ihm aufbewahrt habe.« Was ihr aber nicht aus dem Kopf geht – und sie sehr quält –, ist die Antwort, die sie ihm gab, als er in aller Unschuld fragte, wann er sie wiedersehen könne: »Komm nicht mehr zu mir. Dieser Ring ist das Einzige, was mich mit dir verband. Sonst nichts. Ich werde den Sommer über nicht in der Stadt sein. Such bitte nicht mehr den Kontakt zu mir. Bitte.« Das Leuchten auf dem Gesicht des Jungen war erloschen, bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte. Sie hatte die Sonnenbrille wieder aufgesetzt und sich

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