Dreihundert Brücken - Roman
Minuten später steht er noch immer da und blickt auf die Fassade, da erscheint sie auf der anderen Straßenseite auf dem Bürgersteig und geht auf die eiserne Haustür zu. Um ein Haar hätte er sie verpasst. Er überquert die Straße, bleibt kurz in der Mitte zwischen den fahrenden Autos stehen. Dann betritt er hinter ihr das Haus. Sie hört das Geräusch der Tür in ihrem Rücken und dreht sich aus Höflichkeit um, bevor sie in den Fahrstuhl steigt, um auf den, wie sie meint, anderen Hausbewohner zu warten. Da sieht sie ihn an der Tür stehen. Um nichts in der Welt wird er diesen Blick vergessen. Sie verfügt weder über die Worte noch über die Kraft, ihm begreiflich zu machen, was er längst hätte verstehen müssen. Also sagt sie es mit dem Blick. Sie hat nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen, schon gar nicht im Eingang des eigenen Hauses.
»Ich habe doch gesagt …«, murmelt sie.
»Ich wollte das hier zurückbringen.« Er tritt näher und streckt ihr den Ring entgegen.
Aus einem für sie unbegreiflichen Grund ist Anna gekränkt. »Er gehört dir.«
»Nein. Nein. Ich wollte dich nur noch einmal sehen.« Er tritt noch näher.
»Mein Mann und meine Söhne kommen gleich«, sagt sie und bemüht sich, die Verzweiflung in ihrer Stimme zu überspielen.
Sie stehen einen Meter voneinander entfernt. Er streckt noch immer den Arm aus. Sie zögert. Schließlich nimmt sie den Ring aus der Hand ihres Sohnes entgegen, und sei es nur, um ihn loszuwerden.
Da er stehen bleibt, fragt sie: »Was willst du noch?«
»Nur ganz kurz.«
»Bitte«, sagt sie nervös.
»Er hat auch bis zum Schluss an dich gedacht.«
Anna sieht den Sohn an, den sie verlassen hat. Er ist ein hübscher Junge, brünett, mit schwarzen Augen und dem kantigen Gesicht des Vaters. Und bevor sie irgendein Gefühl empfinden kann, bevor sie schwanken kann oder sich erinnern oder bedauern, treibt eine Kraft, die von wer weiß woher kommt, sie zu einer Reaktion, als stünde sie vor einem Angreifer, der ihr nach dem Leben trachtet, und ihr bliebe nichts anderes übrig, als um das nackte Überleben zu kämpfen. Es ist blinder Hass, was sie dem jungen Mann vor ihr entgegenschleudert; aber so manches Mal hat er sich auch schon gegen sie selbst gerichtet.
»Ich habe dich gebeten, nie wiederzukommen. Was soll ich noch sagen? Dass ich seit dem Moment nicht mehr an ihn gedacht habe, als ich beschlossen habe, das Kind loszuwerden, das ich im Bauch hatte, aus Leichtsinn, weil ich unreif war? Dass ich gezwungen war, ein Kind auszutragen, das ich nie hatte haben wollen? Ein Leben, das ich nicht in mir haben wollte? Ist es denn so schwer zu verstehen, dass ich blind war, mir etwas vorgemacht habe? Ich war doch noch so jung. Was willst du? Ich habe für meinen Leichtsinn gebüßt. Ich konnte es kaum abwarten, euch zu verlassen. Ist es das, was du wissen willst? Ich konnte es kaum erwarten.« Sie fängt an zu weinen. »Aber ich habe dafür gebüßt, verstehst du? Meine Rechnung ist beglichen. Was willst du noch wissen? Dass ich versucht habe, mich umzubringen? Ich wollte nie Mutter werden. Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«
Ruslan rührt sich nicht. Sie hält plötzlich inne. Um nichts in der Welt wird sie ihrerseits diesen Blick vergessen. Er senkt den Kopf, um sie zu schonen, und dreht sich zum Gehen um. Sie besinnt sich.
»Nein, bitte. Entschuldige bitte! Begreifst du nicht, dass ich in Panik bin? Warum treibst du mich so in die Enge? Hat man denn nicht das Recht, sich zu entscheiden? Niemand kann zum Lieben gezwungen werden.« Anna hält sich die Hand vor den Mund, als wollte sie verhindern, dass noch mehr, noch schrecklichere Worte herauskommen, sie weiß nicht, was sie sagt, sie verliert den Boden unter den Füßen.
In diesem Augenblick öffnet Maxim die Haustür und trifft auf die Mutter und den tschetschenischen Arbeiter.
Maxim sieht den Arbeiter an, versteht nur einen Teil der Geschichte, geht an ihm vorbei und stürzt sich auf die Mutter.
»Was ist passiert?« Er zögert, sie zu berühren, doch da sie nichts sagt und nur starr dasteht, packt er sie nervös und energisch am Arm: »Was ist passiert?«
Er will sie aufrütteln, doch Anna schließt die Augen.
Als Maxim sich zur Tür umdreht, ist niemand mehr da. Er lässt die Mutter im Hauseingang allein und folgt dem Arbeiter, der mit großen Schritten das Trottoir voller Gerüste, Bauzäune und Staub entlangeilt. Fünfzig Meter weiter holt er ihn ein. Zögernd tippt er ihm auf die Schulter.
»Was hast
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