Dreihundert Brücken - Roman
deine Familie, ihr werdet hier leben. Dies ist deine Sprache. Und du wirst nicht kaputtmachen, was noch davon übrig ist. Gibt es denn nichts, woran du glaubst? Ich rede mit dir. Sieh mich an! Wirklich nichts?«
»Wovon redest du?«
Dimitri lässt den Sohn los, um ihn nicht zusammenzuschlagen. Er schließt die Augen, fasst sich an den Kopf, dreht sich um und haut gegen die Wand. Anna und Roman in der Küche hören den dumpfen Schlag. Anna lässt ein Glas in der Spüle fallen und merkt, dass sie sich in die Hand geschnitten hat. Der Schnitt ist ganz klein, trotzdem blutet er stark. Sie schiebt die Hand in den Mund, dann wickelt sie ein Geschirrtuch wie einen Verband um die Hand. Sie lächelt ihrem Sohn zu, er sieht sie erschrocken an. Es ist nur ein kleiner Zwischenfall. Sie arbeiten schweigend weiter, Anna wäscht das Geschirr ab, jetzt nur noch mit der rechten Hand, und Roman trocknet es ab.
Im Zimmer spricht Dimitri weiter.
»Vor zehn Tagen ist ein Vize-Finanzdirektor aus Moskau nach Petersburg gekommen, was er sechsmal im Jahr macht. Das Privatleben anderer Leute geht mich nichts an. Jeder kann tun, was er will, solange er nicht das Land in Gefahr bringt. Das ist meine Aufgabe, auf das Vaterland aufpassen. Was ich jetzt sagen werde, bleibt unter uns. Der Vize-Finanzdirektor ist spätabends unter den Kolonnaden der Kasaner Kathedrale zusammengeschlagen worden, nachdem er seine Sicherheitsleute weggeschickt hat und sich amüsieren wollte. Niemand weiß davon, aber der Vize-Direktor wurde, als er aus einem Nachtclub kam, von einer Gruppe Rowdys überfallen. Und du fragst mich nicht, woher ich das weiß?«
Maxim antwortet nicht.
»Sein Glück war, dass jemand dazugekommen ist und geschrien hat, sonst könnte es gut sein, dass der Vize-Direktor inzwischen tot wäre. Und vermutlich wäre es den Angreifern nicht besser ergangen. Es gibt immer Zeugen, einen, der die Verbrecher erkennt. Und ich weiß davon nur, weil ich beauftragt wurde, sie zu finden. Der FSB kennt sich damit aus, diskret Justiz zu üben.«
»Und was habe ich mit dem Ganzen zu tun?«
Dimitri springt seinem Sohn an die Gurgel.
»Das soll dir eine Warnung sein. Ich gebe dir eine letzte Chance. Nur eine einzige. Dieses Mal bist du gerade noch davongekommen. Ein zweites Mal wird es nicht geben.«
Maxim versucht sich zu befreien, er bekommt keine Luft mehr. Als Dimitri merkt, dass sein Sohn lautlos weint, lässt er ihn los. Maxim kniet sich vornübergebeugt auf das Bett und räuspert sich, die Hand an der Kehle. Es dauert, bis er etwas sagen kann. Er funkelt seinen Vater wütend an.
»Statt mich beobachten zu lassen, solltest du dich lieber darum kümmern, was in deiner nächsten Umgebung, in deinem eigenen Haus passiert.«
Er zieht einen zerknitterten Umschlag aus der Hosentasche und reicht ihn dem Vater. Dimitri zögert einen Moment. Dann tritt er näher und greift nach dem Umschlag. Während der Vater den Brief liest, öffnet Maxim die Zimmertür, geht durch das Wohnzimmer und verlässt die Wohnung. Als Anna hört, wie er die Wohnungstür öffnet, kommt sie aus der Küche und läuft zum Fahrstuhl. Sie holt ihn nicht mehr ein, sieht aber noch, wie er, immer vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunterrast, bis unten die Haustür zuschlägt und er in die Stadt entkommt. Als sie das Zimmer ihres Sohnes betritt, hält Dimitri den Brief nicht mehr in der Hand. Er steht an dem von Planen und Gerüsten verdeckten Fenster und weicht dem Blick seiner Frau aus.
»Was war denn los?«, fragt sie.
»Nichts, schon gut.«
9.
Freitag, Mittagszeit
A nna steht mit dem Teller in der Hand auf, geht in die Küche, und als sie wieder ins Wohnzimmer kommt, sagt sie, sie müsse weg. Wenn sie fertig seien, möchten sie bitte abräumen und die Sachen in die Küche bringen. Sie habe am Nachmittag Termine. Sie hat nicht damit gerechnet, dass Dimitri zum Essen kommt. Er isst still zu Ende. Vermeidet, den Blick zu heben. Er möchte nicht Maxims Blick begegnen, der ihn ansieht, während die Mutter spricht. Dimitri spürt in der Stille die ganze Verachtung im Blick des Sohnes, der ausnahmsweise am Vormittag zurückgekommen ist, nachdem er am Vortag sein Gift verspritzt hat. Wahrscheinlich will er nicht verpassen, wie der Vater reagiert. Sie hören den Riegel der Badezimmertür und das gedämpfte Geräusch vom Wasserhahn. Anna putzt sich die Zähne. Maxim hat seinem Vater nichts mehr zu sagen. Er hat vom gestrigen Tag einen Bluterguss am Arm. Roman nimmt sich in der
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