Dreihundert Brücken - Roman
umgedreht, um ihn nicht so zu sehen, bevor sie ging.
Dimitri schweigt, er streicht mit den Fingern über die Kante der Holzkommode. Ihr Schuldgefühl veranlasst Anna weiterzureden, als könnte das Geständnis die Qual mindern.
»Ich habe beschlossen, in diesem Jahr früher nach Wyborg zu fahren. Ich könnte es nicht ertragen, den Sommer hier zu verbringen, die weißen Nächte bei geschlossenen Fenstern. Als reichte es nicht schon, dass man tagsüber das Licht einschalten muss, müssen wir es auch abends einschalten, während uns die Sonne draußen weiter quält. Du weißt, dass mich nichts so deprimiert wie tagsüber brennendes Licht. Und bald wird es überhaupt nicht mehr dunkel werden.«
Dimitri antwortet nicht. Sie spricht weiter.
»Als wir uns kennenlernten, hatte ich ein Leben hinter mir gelassen. Und das habe ich dir gesagt. Vielleicht wolltest du nicht hören oder verstehen, was ›ein Leben‹ bedeutet. Aus Liebe oder aus Großmut. Ich bin die Erste, die dir immer Großmut bescheinigen wird. Ich habe ein Leben aufgegeben. Und das tut niemand ungestraft. Jahrelang habe ich auf den Moment gewartet, dafür büßen zu müssen. Eine Zeitlang glaubte ich, dieser Moment käme in der Stunde des Todes, der Einsamkeit, verlassen von denen, die ich liebe, nachdem ich die verlassen hatte, die ich geliebt habe. Und es ist so gekommen, wie ich es vorhergesehen habe. Bevor ich dich traf, war ich auf der Flucht. Und ich habe es dir gesagt. Ich habe gesagt, dass ich dich früher oder später ins Verderben führen würde. Aber du wolltest es nicht verstehen. Ich habe dir von Chakhban erzählt, aber du wolltest nicht zuhören. Und da war noch mehr. Noch viel mehr. Natürlich war ich verliebt. Und natürlich habe ich eine Zeitlang geglaubt, ich könnte mein ganzes Leben an seiner Seite verbringen. Allein deswegen könntest du mir Inkonsequenz vorwerfen, so wie meine Mutter und meine Schwester es getan haben. Aber da ist noch mehr. Und was du mir wegen all des anderen vorwerfen könntest, weiß ich nicht. Du wolltest den einen Teil nicht hören, und ich habe mich nicht getraut, den anderen zu erzählen, aber jetzt bleibt uns keine Wahl. Vielleicht habe ich Chakhban so geliebt, wie ich keinen anderen Mann jemals geliebt habe, denn in dem Alter war alles möglich, alle guten Ratschläge waren töricht. Ich war jung und überheblich. Das habe ich bald begriffen. Als du auftauchtest, war davon nichts mehr übrig. Nur Schuldgefühle und schlechtes Gewissen und Reue, so groß, dass nicht einmal mehr die Sehnsucht nach der Unbewusstheit und Verantwortungslosigkeit der ersten Liebe möglich war. Was du niemals verstehen wolltest: Ich hatte ein Kind zurückgelassen. Einen Jungen. Und er hat sich auf die Suche nach mir gemacht. Ich bin bis heute auf der Flucht gewesen. Ich glaubte, ich hätte alles vorhergesehen. Aber er brauchte nur aufzutauchen, und es war um mich geschehen. Ich wusste, dass er eines Tages kommen würde. Der Sohn, den ich nicht großgezogen habe, hat trotzdem mein Blut. Wie konnte ich glauben, es würde anders sein? Ein Fremder, den ich sofort erkannt habe, als er hier vor der Tür stand.« Sie lächelt. »Du hast ins Schwarze getroffen. Der Junge könnte mein Sohn sein. Und das ist er auch.«
10.
Sonntag
R uslan steigt aus dem Bus, kann aber keinen Schritt weitergehen. Wie angewurzelt steht er neben den Leuten, die auf ihren Bus warten, der sie nach einem Stadtbummel im Zentrum wieder nach Hause bringen wird. Er hat während der Mittagspause arbeiten müssen, damit er früher gehen konnte. Er blickt auf das Haus auf der anderen Straßenseite, während Autos in beiden Richtungen vorbeifahren. Das erste Mal war einfacher, da ging er kein Risiko ein, man kannte ihn nicht, er konnte sich als jemand anders ausgeben, sollte sie nicht zu Hause sein, wie es dann ja auch geschah. Doch nachdem der jüngere Bruder ihn gesehen hat, will er den anderen keinen Anlass geben, misstrauisch zu werden. Jetzt kann er nicht mehr einfach klingeln wie ein beliebiger Arbeiter, der seine Dienste anbieten will. Und heute ist Sonntag. Er muss sich auf sein Glück verlassen. Er muss mit ihr außerhalb ihrer Wohnung sprechen. Wenn sie aus dem Haus geht oder nach Hause kommt. Er will warten, bis sie die Haustür öffnet. Er wird nicht viel Zeit haben, um all das zu sagen, was er sagen will, wenn er nicht riskieren will, den Mann und die Söhne zu treffen. Wegen des Gerüsts kann man nicht sehen, ob sich jemand in der Wohnung befindet. Vierzig
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