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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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sagt etwas. Er freut sich, sie zu sehen. Sie fällt ihm ins Wort, zieht sich einen Ring vom rechten Ringfinger und reicht ihn dem jungen Mann. Er zögert, nimmt den Ring und betrachtet ihn. Er steht regungslos da, versteht nicht. Jetzt lächelt er nicht mehr. Sie spricht weiter. Wieder formt sie die Hände zu einer Muschel um den Mund. Er sieht sie an und antwortet. Offenbar eine Frage. Sie sagt noch etwas zum Abschluss, bevor sie geht, die Hand auf dem Mund, die Augen hinter der Sonnenbrille versteckt. Sie läuft die Treppen hinunter, hinaus aus dem Gebäude. Dann hastet sie die fast menschenleeren Straßen auf der Wassiljewski-Insel entlang, ohne sich umzuschauen. Sie biegt in eine Gasse ein und betritt das erstbeste Gebäude. Es ist ein dunkler Torweg, der zu einem Hof führt und dann zu einem kleinen Park. Sie lehnt den Kopf an die Wand, nimmt die Brille ab und sackt zusammen. Rutscht an der Wand hinunter, bis sie auf dem Boden sitzt. Würde man sie fragen, könnte sie nicht sagen, wie lange sie dort sitzt. Als ein junges Mädchen, vermutlich eine Studentin, neben ihr niederkniet und fragt, ob sie Hilfe braucht, verneint sie, hält sich die Hände vors Gesicht und bittet, sie allein zu lassen, so groß ist ihre Angst, dass man sie so sehen könnte.
    Als Dimitri sich dem Arbeiter in der weißen Wolke nähert, befindet er sich auch auf dem Fußboden, aber nicht in der Hocke, sondern kniend wie ein Kind, und starrt auf den Ring in seinen auf den Knien liegenden Händen. Der Lärm ist noch immer ohrenbetäubend. Nachdem Dimitri zweimal vergeblich versucht hat, ihn unpersönlich anzusprechen, sieht er sich gezwungen, ihm auf den Rücken zu tippen; mit seinem Namen kann er ihn schlecht ansprechen, sie kennen sich offiziell ja gar nicht. Er fühlt sich dabei unwohl. Endlich dreht der Arbeiter sich um. Seine Augen, der dunkle Bart und das Haar sind weiß vom Staub.
    »Haben Sie eine Frau gesehen, die gerade von hier weggegangen ist?«
    Ruslan zögert. »Nein, ich habe niemanden gesehen.«
    »Sie hat doch mit Ihnen gesprochen.«
    Er sagt wieder: »Ich habe keine Frau gesehen.«
    Dimitri bemerkt seinen Akzent. Der Arbeiter kommt aus dem Kaukasus. Dass er kein Russe ist, macht das Ganze noch erniedrigender. Dimitri reagiert wie automatisch. Der Satz liegt ihm schon auf der Zunge. Er öffnet sogar den Mund, hält aber inne, bevor er ihn ausspricht. Um ein Haar hätte er den Arbeiter, der ihn immer noch hilflos ansieht, nach seinem Ausweis gefragt. Eine Berufskrankheit. Dimitri denkt an Anna. Als er sie kennenlernte, war sie gerade nach St. Petersburg zurückgekehrt. Sie war vollkommen verstört. Ausgedorrt, als hätte ein Wind ihre Seele davongetragen. Sie lernten sich auf einer Party in der Wohnung gemeinsamer Freunde kennen, in der Zeit der weißen Nächte. Irgendwann stand sie auf und trug ein Gedicht von Ossip Mandelstam vor, mit einer so traurigen Stimme, dass er diese Verse nie mehr vergaß: »Nimm mir zur Freude doch aus meinen Händen/ Ein bisschen Sonne und ein wenig Honig/ […], Nimm mir zur Freude meine wilde Gabe/ So unansehnlich, diese trockne Kette/ Aus toten Bienen, die zu Honig Sonne wandeln.« Sie verließen die Party gemeinsam, und bis fünf Uhr morgens liefen sie im fahlen Licht der Sonne, die in dieser Zeit nicht untergeht, durch die Straßen der Stadt und warteten darauf, dass die Brücken heruntergelassen wurden, damit sie nach Hause gehen konnte. Sie tauschten Sommererinnerungen aus. Anna erzählte ihm von der Datscha bei Wyborg, wo sie Jahre nach dem Tod ihres Großvaters das von Motten zerfressene Buch mit den Gedichten von Mandelstam gefunden hatte. Dimitri erzählte ihr von seinen Teenagerflirts am Finnischen Meerbusen. Und zum ersten Mal lächelte die traurige Frau. Dimitri erinnert sich, dass er in diesem Augenblick begriff, dass er sie nicht verlassen durfte. Am nächsten Tag rief er an, erkundigte sich, wie es ihr ging. Er schickte ihr ein Buch von Majakowski mit einem Glas Honig, er wusste ja nicht, dass sie Majakowski nicht ertrug, seit sie ihn in der Schule hatte lesen müssen. Er lud sie zum Abendessen ein, damit sie seine Eltern kennenlernte. Als er ihr fünf Monate später einen Heiratsantrag machte, sagte sie, sie könne nicht lieben, früher oder später werde sie ihn ins Verderben führen, sie sei dazu verurteilt, die Liebe zu fliehen, und dann fragte sie, ob es das sei, was er wolle. Es war ihre Art, seinen Antrag anzunehmen und ihn zu bitten, sie so zu akzeptieren, wie sie war. Er

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