Dreimal Liebe
gegenüberliegenden Seite der Halle, versuchte Louis’ Theater im Hintergrund auszublenden und sich auf Sherly zu konzentrieren. Zusammengekauert lag sie neben ihm, die Augen nur halb geöffnet. »Kann ich irgendetwas für dich tun, Sherly?«
Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Nate ist heute Morgen aufgebrochen und wollte Tabletten besorgen.«
Joels Blick schweifte aus dem eingeschlagenen Fenster, die Herbstsonne stand ganz oben am Himmel, es musste um die Mittagszeit sein. »Offenbar hat er bisher wenig Erfolg«, murmelte er. »Hör mal, Sherly, ein paar Ecken weiter, in der Moore Street, ist heute Markt. Ich werde ein bisschen Obst und Gemüse für dich holen.«
»Aber wir haben kein Geld mehr«, sagte sie.
»Ich werde schon eine Lösung finden.«
»Aber nicht, dass wieder was passiert …«
»Keine Sorge, alles wieder verheilt«, sagte er. »Und vielleicht habe ich ja Glück und einer der Verkäufer schenkt uns ein bisschen was. Mach dir keinen Kopf, ich kriege das schon hin.«
Sherly nickte. »In Ordnung.«
Der Junge mit den dunkelblonden Haaren stand auf und lief zur Tür. Als er die Hand auf die Klinke legte, hielt er inne. »Cathy?«, rief er.
Keine Reaktion.
Manchmal musste er ihren Namen zweimal sagen, ehe sie reagierte, das war ihm schon öfter aufgefallen.
»Cathy?«
Erschrocken wandte sie den Kopf in seine Richtung. »Ja?«
»Kommst du mit?«
Sie sagte irgendetwas zu Louis, das Joel nicht verstehen konnte, erhob sich und ging mit Joel nach draußen. »Wohin gehen wir?«, wollte sie wissen.
»Auf den Markt.«
Der Basar auf der Moore Street glich eher einem festlichen Zeremoniell als einem bloßen Straßenmarkt. Ob Weiß oder Schwarz, überall wurde sich gegrüßt, ein Pläuschchen gehalten, lautstark gehandelt und die Einkäufe in dünnen Plastiktüten nach Hause getragen. Joel und Cathy schmuggelten sich durch dieses bunte Treiben, fragten bei jedem Stand, ob der Händler vielleicht ein bisschen was für sie übrig hatte. Erfolg hatten sie erst bei dem Drittletzten, bei einem kleinen, dicklichen alten Mann, der eine Tüte mit unverkäuflichem Obst und Gemüse für sie zusammenstellte. Während er das tat, blickte Joel unentwegt auf den Boden, und auch Cathy machte zum ersten Mal in ihrem Leben die Erfahrung, wie erniedrigend es sich anfühlte, um Almosen zu bitten. Genau das war der Grund, warum Joel sie mitgenommen hatte.
Auf dem Heimweg liefen die beiden schweigend nebeneinander her. Die Tüte baumelte in Joels Hand und untermalte ihre gemeinsamen Schritte mit einem leisen Rascheln.
»Sherly … Sie sieht seit ein paar Tagen so blass aus«, sagte Cathy. »Geht es ihr nicht gut?«
»Skorbut«, antwortete Joel.
»Wie bitte?«
»Skorbut. Eine Krankheit, die durch Vitaminmangel entsteht.«
Cathy blieb einen Moment stehen und sah Joel mit geweiteten Augen an, bevor sie ihre Schritte wieder aufnahm. »Ist das etwas Schlimmes?«
»Für uns vermutlich mehr als für normale Leute. Die Knochen tun weh, man ist sehr müde, hohes Fieber und Durchfall können eintreten, manche verlieren auch ihre Zähne. Sherly hat das schon zum sechsten Mal. Ihr Immunsystem ist ziemlich geschwächt, sie kann sich nicht wirklich davon erholen.«
»Deswegen das Obst«, murmelte Cathy.
»Ja, aber Sherly müsste es schon kiloweise essen, damit es was bringt. Sie braucht hochdosiertes Vitamin C. Nate will welches besorgen. Bis dahin sind ein paar Äpfel und Paprika besser als nichts.«
Als die beiden die Halle erreichten, hatte sich nichts verändert. Sherly lag zusammengerollt in ihrem Schlafsack, Louis schluchzte und heulte. »I-I-Ihr müsst die Tür auf-auflassen! Sonst findet s-s-ie nicht r-r-rein!«, schrie er den beiden entgegen, woraufhin Joel die Augen verdrehte, aber seinem Wunsch nachging. Gleich im Anschluss kümmerte er sich um Sherly, zückte sein stumpfes Taschenmesser und schnitt das Obst und Gemüse in mundgerechte Stücke, während sich Cathy wieder Louis widmete.
Erst am späten Nachmittag kehrte Nate zurück. Seine rechte Hand wies kleine, blutige Schnittverletzungen auf. Keiner fragte, woher sie stammten. Er hatte das Vitamin C bekommen, mehr zählte nicht.
Cathy setzte sich später wieder zu Joel, der wie so oft vor seinem Radio saß und vereinzelt Lieder aufzeichnete. Aus Louis’ Weinen war inzwischen ein kontinuierliches Wimmern geworden.
»Was ist, wenn Cecile wirklich etwas zugestoßen ist?«, fragte Cathy leise.
»Ach, der ist nichts zugestoßen. Die streunt öfter mal
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