Dreimond - Das verlorene Rudel
mir einmal in dieser großen Stadt …«
Die Wolfsfrau ließ sich keine Reaktion anmerken, doch er wusste, dass sie ihm genau zuhörte. Die Erinnerung war wieder da, verschwommen zwar, aber doch klar genug. Sollte er sie wirklich mit ihr teilen …? Ihr Blick war unnachgiebig und Carras musste an Bluter denken, und an Serafin. Da sprach er weiter.
»Es war lange nach dem Überfall auf meine Eltern … wir waren immer nur in Wäldern unterwegs, als Serafin plötzlich in dieser Stadt …«
»In welcher Stadt?«, fragte Neuschnee vorsichtig.
»An den Namen kann ich mich nicht erinnern«, murmelte Carras. »Aber sie war sehr, sehr groß. Noch nie hatte ich so viele Menschen gesehen! Und Mönche. Sie sprachen in einer seltsamen Sprache … Und … da war ein riesiger Kirchturm. Mit dem Bildnis einer … einer goldenen Wölfin.«
Neuschnee blieb ruhig, doch Carras meinte zu erkennen, wie ein Schatten der Erkenntnis über ihre sonst unbeweglichen Gesichtszüge huschte.
»Die goldene Statue …«, fragte sie eine Spur zu hastig, »… war das wirklich bloß eine Wölfin?«
Er wusste nicht, worauf sie hinaus wollte, er schloss die Augen …
»… Kinder! Da waren zwei Kinder an ihrer Brust …«
»Wo ist das Satorakt?«, flüsterte die Weiße.
»In einem Brunnen«, sagte Carras leise. »Da war dieses Ding, das er in einen Brunnen geworfen hat … in einen Brunnen … unter der Wölfin. Er hat es nie Satorakt genannt, aber …«
Er schluckte. Die Ruhe und die Besonnenheit, der er vertraut hatte, waren aus Neuschnees Augen verschwunden. Sie fingen an zu glänzen, und zugleich huschte ein triumphierendes Lächeln über ihre Lippen, so als könne sie selbst kaum fassen, welches Geheimnis sie nun mit dem Jungen teilte.
Ohne ein weiteres Wort sprang sie auf und lief zur Tür. Carras starrte ihr nach »Das war es doch«, rief er, »was ihr wissen wolltet! Warum lasst ihr mich jetzt nicht gehen? Warum lasst ihr Serafin nicht gehen?«
Er glaubte nicht, dass sie ihm noch antworten würde, da blieb Neuschnee ganz plötzlich in ihrem Freudentaumel stehen.
»Serafin wird sterben«, sagte sie, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.
Kapitel 17
Blutbad
E rschöpft legte Dornstern die Hände in den Nacken und blickte zur moosbewachsenen Decke der Hügelgrotte. Durch einen halbrunden Ritz dort oben in den alten, weißen Steinen glitt ein Hauch vom Mondlicht in die Höhle, schimmernd in der Dunkelheit, und Dornstern spürte in jeder Faser ihres Körpers, dass die Vollmondnacht nahte.
Seit drei Tagen harrte die Richterin, so wie es Brauch war, in der Hügelgrotte aus. Inmitten der Kreidesteine war es kalt und still. So still, dass sie jede Bewegung der beiden Wolfsmenschen hören konnte, die vor der Höhle warten mussten, bis Dornstern sich für einen Richterspruch entschieden hatte.
Maron und Ehrenpreis, Leibdienerin und Leibwächter, durften sich in dieser Zeit möglichst nicht von der Stelle bewegen, oder zu ihr sprechen. Es war Aufgabe der beiden, darauf zu achten, dass kein störendes Wort von außen zu ihr drang, bis die Entscheidung endlich gefasst war.
Es wurde höchste Zeit. Doch etwas hielt Dornstern davon ab, Schattenklaues Todesurteil zu fällen. Nur was? Ihr Gespür, auf das sie sich bis jetzt immer hatte verlassen können? Oder bloß die alten Erinnerungen, die sie mit dem Wolfsmann teilte? Das durfte nicht sein!
Rastlos irrte ihr Blick durch den heiligen Raum, verharrte schließlich an dem steinernen Altar, auf dem Astorklinge und Rotaskralle einst vereint zur Schau gestellt worden waren, und den jetzt nur noch ein alter, dreiarmiger Kerzenleuchter zierte, der zumindest für etwas Wärme in der winzigen Höhle sorgte.
Dornstern lächelte traurig. Wie oft hatte sie ihren alten Vater an dem Altar beten sehen. Weil hier die Geister zu mir sprechen, Dornstern, hatte er oft zu ihr gesagt, daran hatte er fest geglaubt. Sogar vor Maron hielt sie es geheim, doch zu ihr, der neuen Richterin, hatte noch nie ein Geist gesprochen. Nicht ein einziges Mal in all den Jahren.
Warum …? Vielleicht, weil sie es ihr übel nahmen, dass sie nur auf Wunsch ihres Vaters und nicht aus eigenen Stücken
Richterin geworden war? Vielleicht, weil sie wussten, dass Dornstern nicht selten an ihnen und an der Macht von Klinge und Kralle ihre Zweifel hegte?
Beinahe war es zum Lachen. In Wahrheit war sie eine denkbar schlechte Priesterin!
Was hatte sich ihr Vater nur dabei gedacht, sie auszuwählen? Er, der
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