Dreimond - Das verlorene Rudel
stieß Blitzschweif die Tür zum Turmzimmer auf. Er biss sich auf die Lippen, als er sah, wer sich dort alles versammelt hatte. Nicht nur sein Vater, seine Mutter und Kaltschnauze, auch die Hohe Richterin und die drei Kohortenführer standen um den langen, hölzernen Verhandlungstisch. Sie alle blickten nun auf ihn. Auch Alkarn, der sich auf die Holzkante stützte.
»Wer ist das überhaupt, dieser Carras …?«
»Schweig!«, war die einzige Antwort, die sein Vater für ihn übrig hatte.
Wie geohrfeigt blieb er im Türrahmen stehen. Die Erwachsenen sprachen weiter, als hätte er den Raum nie betreten.
»Bluter hat recht. Wir brauchen keine zweite Verhandlung«, stellte Dornstern fest. »Die Wolfsnacht ist nahe und ich habe gehört, was ich hören muss. Ich werde mich zurückziehen und über mein Urteil nachdenken.«
Die Petroleumlampen, die die Tafel sonst erhellten, waren zu dieser frühen Stunde nicht entzündet. Bleich und farblos standen sie herum.
»Er soll verurteilt werden – noch bevor er ein Wort zum Satorakt gesagt hat?«, entgegnete Kaltschnauze ungehalten.
»Wir brauchen ihn nicht mehr. Wir haben den Jungen«, erklärte Bluter triumphierend.
»Das heißt, er weiß, wo das Satorakt ist?«, entfuhr es Blitzschweif vor Aufregung.
Alkarn sah ihn finster an und wollte ihn wohl ein zweites Mal zurechtweisen, als Neuschnee dem Leitwolf beschwichtigend über die Schulter strich.
»Es ist möglich«, sagte sie zu Blitzschweif und lächelte ihm aufmunternd zu.
Beschämt wandte er den Blick ab. Er hasste es, wenn seine Mutter für ihn Partei ergreifen musste. Er wollte sich Vaters Respekt aus eigener Kraft verdienen.
»Ich werd’ ihn mir vorknüpfen. Der Kleine wird schnell singen!«, verkündete Bluter vollmundig.
»Nein«, sagte Kaltschnauze. »Wir sollten versuchen sein Vertrauen zu gewinnen.«
Eisenfell nickte.
»Immerhin fließt Wolfsblut in seinen Adern.«
»Das Blut von Verrätern!«, protestierte Horniss, während sich Blitzschweif unbemerkt aus dem Turmzimmer stahl. Das war die Gelegenheit, auf die er so lange gewartet hatte!
*
Carras’ Blick wanderte über das seltsame Schlachtfeld hinauf zum kahlen Gemäuer, wo auf halber Höhe ein Glaskasten hing, dessen Rückwand über und über von kleinen Körpern bedeckt war. Er trat näher und entdeckte eine Unzahl von Schmetterlingen und anderen Insekten. Festgepinnt, von zahlreichen Nadeln durchbohrt. Regelrecht hingerichtet.
Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück.
Plötzlich vernahm er ein sonderbares Geräusch, ein schwaches Schaben. Er wandte den Kopf und entdeckte, eingeklemmt in einer Mauernische, ein rohes Brett, darauf halbhohe Tongefäße. Vorsichtig griff er nach einem von ihnen, hob den Deckel und fuhr im selben Moment erschrocken zurück. Tote, halb verweste Käfer, Hummeln, starr auf dem Rücken liegend. Und über ihnen ein paar Falter, in deren zarten Körpern nur noch ein Hauch von Leben war, sodass hin und wieder einer der Flügel zitternd über die Wände ihres Gefängnisses strich.
Carras fühlte Übelkeit und Wut in sich aufsteigen. Er holte aus und wischte mit einem Streich über die Holzbank unter ihm. Figuren, Stöcke und Steine wirbelten durchs Zimmer. Mit geballten Fäusten stand er da.
Auf einmal drehte sich ein Schlüssel im Schloss und jemand riss die Tür auf.
Carras fuhr herum. Ein Junge mit langem, blondem Haar, nicht älter als er selbst, stand im Raum.
Er warf die Tür hinter sich ins Schloss. »Bist du verrückt? Was fällt dir ein, mein Zimmer zu verwüsten?«
»Dein Zimmer? Du warst das also!«
Er war vielleicht kein Kämpfer, aber mit diesem kleinen, gemeinen Käfermörder würde er schon fertig werden! Und dann zu Serafin …!
»Versuch es erst gar nicht!«, zischte der Blonde. »Ich bin Blitzschweif, der Alkarnssohn, und kann jeden deiner Schritte voraussehen!«
Carras starrte ihn beeindruckt an, während
Blitzschweif ihn abschätzig musterte.
»Du bist also das Kind …«, er sagte es, als wäre er selbst längst erwachsen, »… mit dem sich Schattenklaue davongemacht hat.«
Schattenklaue … So hatten auch Neuschnee und Bluter Serafin genannt. Der Name gefiel ihm ganz und gar nicht. Noch weniger schmeckte ihm die Art, wie der Junge ihn ausgesprochen hatte. Als handle es sich dabei um eine Krankheit.
Blitzschweif reckte sein Kinn.
»Ihr habt uns all die Jahre an der Nase herumgeführt. Ihr habt meinen Vater beleidigt. Und ihr habt es fortgeschafft … das
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