Dreimond - Das verlorene Rudel
sie scheinbar Serafins Blick auf sich spürte, und schob sich vorsichtig unter Lex hervor.
»Bist du in Ordnung?«, rief sie ihm zu. Er stand auf und klopfte sich Staub und Steine von seinem Leinengewand.
»Ja, ich denke schon.«
»Gut …«, murmelte Fiona und versuchte, sich ebenso schnell wie er aufzurichten, wobei sie ins Wanken geriet und sichtlich mit Mühe ihr Gleichgewicht wiederfand.
Sie wandte sich an ihn. »Serafin, wo sind wir hier? Was soll das alles?«
Sein Blick schweifte über das weite, wohlbekannte Tal.
»Im Sintgrund. Hier werden sie uns jagen.«
Er schloss die Augen. Erinnerungen an Nächte, in denen er nicht Opfer, sondern Jäger gewesen und Seite an Seite mit seinen Rudelbrüdern in eben diesem Tal auf Verräterjagd gegangen war, überkamen ihn, und er schalt sich dafür, dass sich etwas in ihm für Sekunden nach den alten Zeiten sehnte.
»Wir können immer noch von hier verschwinden!«, riss ihn Fiona aus seinen Gedanken. »Es ist noch Tag! Sie haben uns zu früh hier ausgesetzt. Uns bleibt noch Zeit, hier rauszukommen!«
Serafin deutete auf die hohen Felsen, die wie Grabsteine starr und kalt das Tal umschlossen.
»Unmöglich.«
»Dort, wo sie uns hinuntergestoßen haben, war es nicht ganz so steil!«, meinte Fiona beharrlich, drehte sich nach der Stelle um, und erschrak, als oben fünf Wolfskrieger auftauchten.
»Sie werden nicht von dort verschwinden«, sagte Serafin. »Auch nicht, wenn der Vollmond aufgegangen ist. Sie stürzen jeden in die Tiefe, der zu entkommen versucht.«
Es galt als schmählichster Tod, auf diese Weise während der Flucht zu sterben.
»Gibt es keinen anderen Ausweg?«, fragte Lex grimmig und klopfte sich, noch immer im Sitzen, den Staub vom Körper.
»Nein«, erwiderte Serafin. »Glaubt mir, ich bin schon oft hier gewesen.«
Wieder Erinnerungen. Er als junger Wolf auf Fährtensuche, wild entschlossen, der zu sein, der den Verräter als Erster zu fassen bekam. Tagelang wurde man dafür im Rudel gefeiert …
»Dann verstecken wir uns! Wir versuchen, ihnen im Kessel zu entkommen!«, rief das Mädchen. »Wir … wir müssen nur den Vollmond überstehen!«
»Das ist es, was sie wollen«, sagte Serafin. »Sie wollen, dass es eine gute Jagd wird.«
Entrüstet starrte sie ihn an. »Du willst einfach so aufgeben?«
Er lächelte. »Nein. Ich werde kämpfen, bis zum Tod. Eine Frage der Ehre.«
Für einen Moment war sie offenbar sprachlos. Sie blickte über die Ebene mit den dürren Fichten, all dem Geröll und den alten, trockenen Farnen.
»Wenn du sowieso kämpfen wolltest«, erwiderte sie schließlich, »warum hast du es nicht getan, bevor sie uns in diesen ausweglosen Kessel gestoßen haben?«
»Wegen uns«, murmelte Lex, noch bevor Serafin etwas sagen konnte. »So kurz vorm Vollmond einen Kampf gegen zehn Werwölfe zu wagen … Das hätten du und ich nicht überstanden. Weil wir nicht sind wie er.«
Lex erhob sich, seinen Blick fest auf Serafin gerichtet. Er wollte scheinbar etwas sagen, hielt inne und kam zu ihm. Kein Schritt trennte sie mehr, als er es endlich aussprach. »Du hast es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr? Dass ich nur große Reden schwinge. Dass ich … kein vollwertiger Wolf bin.«
Serafin erwiderte seinen Blick. »Ja. Natürlich.«
Sein Gegenüber ballte die Fäuste. Für einen Moment war für sie beide alles ausgeblendet – das Tal, die Wächter, sogar das Mädchen.
»Warum«, wollte Lex mit gesenkter Stimme wissen, »hast du mir nie etwas gesagt?«
Er schwieg.
»Sag’s mir! Warum hast du mich damals mitgenommen?«
Serafin suchte nach den richtigen Worten.
»War es Mitleid …?«, flüsterte Lex.
»Nein«, meinte er nachdenklich. »Es war … Ich habe dich verstanden.«
»Was hast du verstanden?«
»Als Halbblut«, sagte Serafin, und sah, wie sich die Züge des anderen bei dem Wort verkrampften, »sind dir beide Welten fremd. Davon bist du getrieben.« Tastend fuhr er über das Brandmal auf seinem Nacken. »Auch ich habe nie vergessen, wer ich bin. Weil …«
»… man seine Herkunft nicht verleugnen kann«, entgegnete Lex tonlos.
Serafin nickte. »Es liegt uns im Blut.«
Die beiden sahen sich an, der Leitwolf und der Raufbold, und Serafin dachte, dass sie einander zum ersten Mal wirklich verstanden.
»Schluss jetzt!«, erklang Fionas Stimme.
Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als Serafin und Lex sie gleichzeitig anstarrten, gewann aber rasch ihre Sicherheit zurück.
»Menschenblut, Wolfsblut,
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