Dreimond - Das verlorene Rudel
Wolfsburg lief. Doch Kaltschnauzes Schweigen hielt nicht lange an.
»Du bist dumm, den zu beleidigen, der dir die Hand reicht, Neuschnee!«, rief er ihr hasserfüllt nach. »Du hast hier nicht viele Freunde! Auch Alkarn wird die Augen öffnen. Nur deiner Schönheit wegen hat er dich damals zu sich genommen. Aber die wird vergehen. Du bist doch jetzt schon nicht mehr die, die du gewesen bist. Selbst Schattenklaue, der dir einmal jeden Wunsch von deinen giftigen Augen lesen wollte, sorgt sich jetzt mehr um sein Balg als um dich! Zu dumm, wo du doch all deinen Verstand weggeworfen hast, um ihn zurückzuholen – aus bloßer Liebeslust!«
Neuschnee drehte sich nicht noch einmal zu ihm um. Sollte er doch denken, was er wollte.
Er irrte sich. Sie alle irrten sich, wenn sie glaubten, dass der Grund, aus dem sie den Schwarzen hierher gebracht hatte, so einfach war. Da gab es etwas anderes. Etwas Wichtigeres. Sie musste es Schattenklaue sagen, bevor es zu spät war.
Kapitel 18
Hetzjagd
F iona hätte nicht sagen können, wie lange es gedauert hatte, geschweige denn, was um sie herum geschehen war, ehe auf einmal das Stolpern, Schubsen und Lärmen ein Ende fand.
Ihr Blick war noch immer auf den Boden gerichtet, und nachdem sich ihr fliegender Atem ein wenig beruhigt hatte, zwang sie sich geradeaus zu sehen. Was sich da vor ihr auftat, traf sie mit Wucht. Lex, der nicht weit von ihr war, sog scharf die Luft ein.
Die Wölfe der Schwarzen Sichel hatten sie nah an einen Abgrund geführt, der überwältigend wie furchterregend war.
Ein riesiger Kessel breitete sich vor ihnen aus, umrahmt von gezackten Felsrücken, die so steil aufragten, dass sie wie glatte, breite Messerscheiden in den dunstig-gelben Himmel stießen. Scharfkantig und abweisend umschlossen sie das Tal und warfen mahnend ihre tiefen Schatten auf unwegsame Geröllfelder, verkrüppeltes Buschwerk und ein paar struppige Fichten, die ihre Zweige wie Igelstacheln von sich streckten. Weiter hinten im Kessel schien die Talsohle etwas lebendiger zu werden, dort war es einem Meer von hohen, gelblichen Farngewächsen gelungen, dieser feindlichen Umgebung ein bisschen mehr Raum abzuringen.
Fiona zuckte zusammen, als sie nah an ihrem Ohr ein raues Flüstern vernahm.
»Schöne Aussicht, was?«
Höhnisches Gelächter folgte.
»Wie lange sollen wir noch warten, verdammt noch mal«, brüllte jemand. »Packt sie! Runter mit ihnen!«
»Sachte, sachte«, ertönte da unheilvoll gelassen Bluters Stimme. Er stand am weitesten weg vom felsigen Abgrund und kam jetzt langsam auf sie zu, wobei die anderen respektvoll eine Gasse bildeten. Zwei kurze Blicke nach rechts und links von ihm genügten, und die Werwölfe packten Serafin und Lex und rissen sie zum Abgrund. Es ging alles so schnell. Sie wusste nicht, wie ihr geschah .
Aus den Augenwinkeln hatte sie für den Bruchteil einer Sekunde den alarmierten Blick von Lex wahrgenommen, da sah sie Bluter mit einem hasserfüllten Grinsen auf sich zulaufen. Doch noch bevor er sie erreichen konnte , gab es neben ihr lautes Geschrei und Gerangel. Jemand flog auf sie zu, schlang die Arme fest um ihren Körper und sprang mit ihr in die Tiefe. Instinktiv krallte sie sich an diesen anderen, presste sich fest an ihn und schloss die Augen. In den nächsten Sekunden, die sich für sie seltsam unwirklich anfühlten, so als sei sie plötzlich in einen Albtraum gefallen, spürte sie heftige Stöße, sie hörte angestrengtes Keuchen, roch Schweiß. Ein paar Mal wurde ihr schwindlig und etwas tat weh. Aber der Schmerz erreichte sie nicht wirklich, sie fühlte sich, wie in Watte gehüllt.
Plötzlich – Ruhe. Etwas drückte sie hart und schwer auf den Boden. Nach und nach wurde ihr klar, dass das Donnern in ihren Ohren ihr eigener Herzschlag war, der sich mit dem fliegenden, hustenden Atem über ihr vereinte.
Lex! Sie sah ihn an und wusste, dass sie ohne seinen Schutz wohl jetzt mit zerschmetterten Gliedern hier auf dem kalten Felsgrund läge.
»Danke«, sagte sie benommen. »Geht es dir gut …?«
Er nickte, sah sie an und sagte kein Wort.
*
Serafins Glieder schmerzten von dem Sturz. In seinem Kopf drehte sich alles, doch sofort zwang er sich, aufzustehen und nach den beiden anderen zu sehen. Erleichtert atmete er auf. Sie lagen wenige Schritte neben ihm – halb übereinander, halb nebeneinander – und sahen einander, wohl ein wenig ungläubig, all das überstanden zu haben, in die Augen.
Fiona zuckte zusammen, als
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