Dreimond - Das verlorene Rudel
anderen.
Er sah überrascht auf, als Neuschnee seinen Arm umfasste. Er wusste nicht, was er bei ihrem Anblick empfinden sollte. Seine Überraschung, ihr nach all den Jahren wieder zu begegnen, hatte ihn für eine Weile vieles vergessen lassen. Trotz aller Wiedersehensfreude war ihm schnell klar geworden, dass sie sich nicht verändert hatte. Neuschnee war unberechenbar. Sie war die neue Alkarnswölfin geworden und damit auf der Seite des Rudelführers. Sie war genauso gierig nach der Heiligen Kralle wie die anderen im Rudel. Und dennoch schien sie ihm in ihrer kühlen, fast unnahbaren Schönheit auf seltsame Weise verletzlich, als sie in einem ungewöhnlichen Tonfall, in dem fast so etwas wie Sorge mitschwang, zu ihm sprach.
»Du musst etwas essen und trinken, Schattenklaue. Wir sind noch Tage unterwegs. Du schaffst es sonst nicht …«
»Vielleicht ist das ja sein Plan«, ließ sich da Bluter vernehmen. »Unser kleiner Verräter hat wohl kalte Füße gekriegt! Kein Wunder, wenn man bedenkt, was ihn zu Hause erwartet!«
»Was soll das, Bluter? Wie du weißt, wird das Hohe Gericht tagen. Es wird eine ordentliche Verhandlung geben.«
»Aber ja doch«, antwortete Bluter betont gelassen, »er wird genau das Urteil kriegen, das er verdient …« Er trat dicht an Serafin heran. »Und das wird dein Tod sein …!«, zischte er.
Serafin antwortete nicht.
Bluter schenkte ihm ein hasserfülltes Grinsen.
»Na, wie fühlt man sich, wenn einen alle verlassen haben?«
»Bluter!«, ermahnte ihn Neuschnee.
»Ist ja schon gut!«, rief dieser, griff in seine Tasche, zog ein angenagtes Stück Pökelfleisch hervor und warf es Serafin vor die Füße. »Hier, das muss reichen«, meinte er mit einem falschen Lächeln. »Aber keine Angst, Schattenklaue, deine Henkersmahlzeit wartet schon!«
Kapitel 10
Störfeuer
A uf die kalte Nacht folgte ein herrlich warmer Herbsttag. Den ganzen Vormittag hatte sich Fiona in dem sonnenbeschienenen Wagen entspannt, den Mittag und Nachmittag dann völlig verschlafen – und sie hätte wohl noch länger geträumt, wären da nicht die Stimmen der Wolfsmenschen gewesen, die jetzt lautstark diskutierten.
»Wir haben keine Zeit für so was!«, hörte sie Lex schimpfen.
»Ja, aber wir können ihn doch nicht einfach liegen lassen!«, protestierte Carras.
Verschlafen rieb sich Fiona die Augen, erhob sich widerwillig aus ihrem Deckenlager und kroch über die verbliebenen Kartoffeln zu Lex und Carras in den vorderen Teil des Wagens.
»Wen können wir nicht liegen lassen?«
»Oha, Prinzessin Kartoffel ist erwacht«, stöhnte Lex.
»Da vorn liegt ein Mann«, meinte Carras.
»Ein Mann? Wo?«
Angestrengt fixierte Fiona den Weg, der sich vor ihnen durch ein dichtes Waldstück erstreckte. Nur schemenhaft konnte sie eine Figur erahnen, die noch ein gutes Stück entfernt von ihnen am Wegesrand lag. Doch, jetzt sah sie ihn, einen alten Mann, zusammengekrümmt.
»Der legt sicher nur eine Pause ein. Wir haben keine Zeit zu verlieren!«, meinte Lex, der Nenas Zügel in den Händen hielt.
»Na ja, aber vielleicht …«, setzte Carras an.
»Natürlich halten wir an!«, unterbrach ihn Fiona.
»Reinste Zeitverschwendung …«, knurrte Lex, als der Alte, dem sie inzwischen schon ziemlich nahe waren, zitternd seinen Arm gen Himmel streckte.
Vorwurfsvoll starrten Fiona und Carras den Wolfsmann an. Lex verdrehte die Augen, trotzdem befahl er Nena, anzuhalten.
Carras sprang vom Wagen, lief zu dem Alten. »Na, Väterchen, wo drückt der Schuh?«
Er bückte sich und reichte dem Fremden die Hand.
Fiona wollte gerade vom Wagen klettern, um nach dem Rechten zu sehen, da passierte es.
Der Alte stieß einen schrillen Schrei aus, schnellte auf die Beine und zückte einen Dolch, der rötlich in der Sonne blitzte.
Instinktiv sprang Carras zurück und entging knapp der Klinge. Plötzlich tat es einen lauten Schlag, der Kartoffelkarren kippte ächzend zur Seite, und Fiona stürzte kreischend auf die Erde. Verwirrt fuhr sie herum, als ein großer Kerl mit dunklen Locken einen mächtigen Knüppel aus den Speichen eines der Wagenräder zog. Offenbar hatte er das Rad zertrümmert oder zumindest stark lädiert.
Panisch wieherte Nena auf.
Fiona wirbelte herum, um nach Carras und dem Alten zu sehen, da war neben dem lockigen Hünen ein weiterer Kerl aufgetaucht, klein aber muskulös. Ein anderer Mann mit feuerrotem Haar trat aus dem Dickicht. Drohend näherten sie sich und kreisten sie und die anderen
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