Dreimond - Das verlorene Rudel
Viele fürchten sich vor dem Rudel, mehr noch, bewundern die Sichel .«
»Sie bewundern sie …? « Fassungslos starrte sie ihn an. »Wieso?«
»Ist doch wohl klar«, zischte der Wolfsmann. »Ihrer Stärke wegen! Viele unserer Art unterdrücken ihr Wolfsblut. Sie kuschen, sie passen sich an. Bloß um den gewöhnlichen Menschen zu gefallen, die uns ja doch verteufeln!« Es fiel ihm sichtbar schwer, die Stimme ruhig zu halten. »Die Sichel predigt etwas anderes«, sagte er schließlich. »Stolz tragen ihre Wölfe das Kainsmal auf dem Nacken, sie sind bereit, sich mit den Menschen zu messen, sie …«
»Und du …?«, unterbrach ihn Fiona beklommen. »Was hast du gedacht, als du die Geschichten hörtest?«
Ein fremder, kalter Ausdruck stand in Lex’ Augen. »Mir hat es gefallen, dass mal jemand euch Menschen zeigt, dass ihr nicht allmächtig seid.«
Wie denkst du jetzt?, wollte Fiona fragen. Ich bin auch ein Mensch …
»Du hast sie bewundert und jetzt willst du sie überfallen?«, stammelte sie stattdessen.
Lex grinste. Der Zorn in seinen Augen erlosch. »Was kümmern mich die Geschichten? Jetzt zählt nur Serafin!«
*
Es war, als ob ihn seine Füße von selbst trügen. So wie er nichts dafür tun musste, dass sein Herz schlug. Er atmete ein und aus, setzte willenlos Schritt vor Schritt. Die Landschaft, die die letzten Sonnenstrahlen in klares Licht tauchten, nahm er wie durch einen Nebelschleier wahr. Nur beiläufig registrierte er, dass die weite Ebene, die sie durchquert hatten, allmählich in hügeliges Land überging. Seine beiden Begleiter – der Mann hinter ihm, die Frau vor ihm – schienen ihm fremd und unwirklich. Die Worte, die sie hin und wieder an ihn richteten, erreichten ihn nicht. Was um ihn vorging, interessierte ihn nicht mehr.
Er weigerte sich, auch nur das Geringste zu sich durchdringen zu lassen. Denn Serafin wusste, dann würde es wieder über ihn hereinbrechen, dieses entsetzliche Gefühl von Schmerz und Ohnmacht.
Er hatte alles verloren, was ihm lieb und teuer war, und es gab keine Möglichkeit mehr, es zurückzuholen. Schon vor zehn Jahren war es nicht leicht gewesen, alles hinter sich zu lassen. Sein Leben, sein Rudel, die Rotburg – dort war er schließlich groß geworden. Doch damals hatte er die Entscheidung getroffen, die er hatte treffen müssen. Und er hatte sie nicht bereut.
Natürlich hatte es Momente gegeben, da Wehmut ihn erfüllte und er sich nach seinen ehemaligen Rudelgefährten sehnte. Aber das war immer wieder schnell vergangen. Denn da war Carras gewesen. Der Junge, dessen Leben er gerettet hatte. Zunächst nur aufgrund eines stummen Versprechens. Doch über die Jahre war ihm der Kleine so ans Herz gewachsen, dass er sich gar nicht mehr vorstellen konnte, ohne ihn zu sein. Jetzt würde er ihn niemals wiedersehen.
Serafin versuchte, sich mit Macht zusammenzureißen. Aber der Panzer, den er zum Schutz um sich gezogen hatte, begann zu bröckeln, und er spürte, wie Trauer und Verzweiflung nach ihm griffen. Grimmig ballte er die Fäuste, wobei die Fesseln an seinen Handgelenken noch tiefer in seine Haut schnitten. Was brachte es, immer wieder daran zu denken, dass er das Vertrauen des Jungen nach allem, was geschehen war, für immer verloren hatte? Was musste in Carras vorgegangen sein, als er so grausam und schonungslos erfahren hatte, dass …
Er taumelte.
»He, was ist mit dir?«, ertönte eine barsche Stimme hinter ihm, gefolgt von einem gleichermaßen ungläubigen wie spöttischen Auflachen. »Kannst du etwa nicht mehr? Oder machst du uns nur etwas vor, du dreckiger Hund?«
Serafin spürte einen kräftigen Stoß im Rücken, doch er straffte die Schultern und ging weiter, ohne Bluter eines Blickes zu würdigen. Er kannte den Wolfsmann seit seiner Kindheit. Er wusste, dass Bluter im Rudel beliebt war. Er hatte diese Ausstrahlung, der sich besonders jüngere Rudelmitglieder nur schwer entziehen konnten. Er war ein Schauspieler, der genau die Rolle spielte, die ihm am meisten Applaus innerhalb der Sichel einbringen würde. Und er war der jüngere Bruder von Rotpelz, dem Wolf, den Serafin getötet hatte.
Er wusste, welche Strafe auf Brudermord, das Töten eines Wolfes aus dem eigenen Rudel, stand. Und doch hatte er keine Angst vor seinem Schicksal. Er würde nicht um sein Leben kämpfen – das hatte für ihn ohnehin jeglichen Sinn verloren. Alles, was zählte, war, dass Carras weiterlebte. Und so setzte er wortlos einen Fuß vor den
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