Dreimond - Das verlorene Rudel
verwachsenen Knochenäste drohend geradeaus, so als wären sie eben erst im Angriff durch den roten Sandstein gestoßen.
Der Raum wurde durch zahllose Petroleumlampen, die auf der breiten Tischplatte, um den hölzernen Königsthron und versteckt in Mauernischen standen, unnatürlich erhellt. Mal aus kunstvoll vergoldetem Messing, mal aus mattem Zink, mal zersplittert und längst unbrauchbar, mal strahlend neu reihten sich die Öllaternen jener Sammlung nebeneinander, die Alkarn bei jedem Überfall auf Menschenstädte um eine Lampe zu erweitern pflegte.
»Alkarn, Ihr solltet …«, wollte sie gerade zu dem Leitwolf sprechen, als sie hörte, wie jemand vorsichtig von der knarzenden Holzstiege, die hoch zur Aussichtsplattform führte, zu ihnen herunterkam.
Kaltschnauze! Natürlich!
Der zweite Berater des Leitwolfs, mit dem Neuschnee ihr Amt zu teilen hatte, war nicht gerade von großer Statur, und doch bewegte er sich stets so steif, so aufrecht, als wollte er jeden anderen an Größe überragen. Neuschnee wusste nur zu gut, dass er von dort oben genauestens beobachtet hatte, was unten auf dem Burghof vor sich gegangen war. Kerzengerade ging Kaltschnauze auf sie zu und verneigte sich. »Es freut mich, dass Ihr zurück seid, Alkarnswölfin …«
Der abfällige Blick, mit dem er sie anstarrte, sagte etwas anderes. Nach einem wortlosen Nicken wandte sie sich brüsk von ihm ab und ihrem Mann zu. »Mein König, wir waren lange getrennt. Wäre es möglich, dass wir beide unter vier Augen reden?«
»Geht es um Schattenklaue?« Alkarn verzog eine seiner dunklen Augenbrauen. »Dann wird Kaltschnauze bleiben. Neuschnee, du weißt, dass er und du in gleicher Weise meine Berater seid .«
»Natürlich«, entgegnete sie mit schneidender Stimme. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein Lächeln Kaltschnauzes schmale Lippen umkräuselte.
Mit einem Seufzer sank der Herrscher auf seinen Thron, auf den ersten Blick nichts als ein grober Holzstuhl, der aber beim zweiten Hinsehen feinste Schnitzereien offenbarte, die den Mond in seinem Kreislauf zeigten.
Links waren zunehmende, rechts abnehmende Nachtgestirne ins Ebenholz geritzt; in der Mitte überm Königshaupt aber war der stolze Vollmond in die Rückenlehne eingekerbt.
»Nun sprich schon, Neuschnee!«, verlangte Alkarn, der mit seinen breiten Händen über die hölzernen Stuhlgriffe fuhr.
»Ich glaube«, sagte sie nach einem kurzen, angespannten Seitenblick auf Kaltschnauze, »dass wir Schattenklaue nicht vorschnell verurteilen sollten. Jahrelang hat er der Sichel treu gedient, und …«
Alkarn hob ablehnend die Hand.
»Gerade weil er mir so nahe stand, wiegt sein Verrat besonders schwer!«
»Ganz richtig, mein Herrscher«, pflichtete ihm Kaltschnauze auf der Stelle bei und legte nachdenklich die Fingerkuppen aneinander. Seine Hände waren groß, zu groß, verglichen mit dem Rest seines Körpers. »Eine strenge Strafe wird vonnöten sein«, fuhr er leise fort. »Um allen Eure Stärke aufzuzeigen …«
»Darum geht es mir nicht! Das steht doch außer Frage!«, unterbrach Neuschnee den Berater barsch. »Doch bevor ihr ihn vorschnell verurteilt, will ich euch sagen, dass er vermutlich weiß, wo es sich befindet …«
»Das Satorakt?«, entfuhr es Kaltschnauze. Seine Finger verkrampften sich.
Alkarn ballte seine Fäuste so fest um die Stuhlgriffe, als wollte er sie zermalmen. »Was hat Schattenklaue dir erzählt? Sprich schon!«
»Andeutungen, Versprechen, Ausflüchte«, erklärte sie ernst. »Und das, obwohl er mir ansonsten keine Antwort verweigert hat. Genau darum bin ich mir sicher, dass er etwas weiß!«
»Wir werden ihn schon gefügig machen …«, verkündete Kaltschnauze selbstzufrieden. »Lasst mich nur mit ihm reden, Alkarn.«
»Das ist nichts, was im Stillen geklärt werden sollte. Eine offene Gerichtsverhandlung ist die gerechte Lösung!«, widersprach ihm Neuschnee entschieden.
»Aber der Fall ist klar«, empörte sich Kaltschnauze. »Schattenklaue hat Verrat begangen. Es ist vollkommen unnötig, das Hohe Gericht einzuberufen! Ich kann ihm sein Geheimnis entlocken, danach soll ihn ein schneller Tod ereilen!«
Alkarn nickte. »Die Urteilsfindung wäre zeitaufwendig und die Richterin ist noch geschwächt vom letzten Ritus. Ich glaube, ein Prozess wird nicht nötig sein.«
»Jeder, der das Kainsmal auf seinem Nacken trägt, hat das Recht auf einen Prozess«, entgegnete sie beharrlich.
»Ja, so lautet das Gesetz, doch müssen wir es nur befolgen, wenn der
Weitere Kostenlose Bücher