Dreizehn bei Tisch
Sein Blick fiel auf ein Aktenköfferchen, das auf einem Stuhl lag.
»Hatte Miss Adams dies bei sich, als sie gestern Abend fortging?«
»Morgens nahm sie es mit, Sir. Zum Nachmittagstee kam sie ohne den Koffer zurück, aber nachts brachte sie ihn wieder mit.«
»Gestatten Sie, dass ich ihn öffne?«
Alles würde Alice Bennett gestattet haben. Wie die meisten vorsichtigen und argwöhnischen Frauen war sie weiches Wachs, sobald man ihr Vertrauen gewonnen hatte.
Das Köfferchen war nicht verschlossen. Neugierig ging ich näher heran und spähte über Poirots Schulter.
»Sehen Sie, Hastings?«, murmelte er, heiser vor Erregung.
Drinnen lag eine Schachtel mit Schminkmaterial, ferner zwei seltsame Gegenstände, die ich als Schuheinlagen erkannte, dazu bestimmt, den Wuchs ihres Trägers um zwei Zentimeter oder mehr zu erhöhen. Da lagen ein Paar graue Handschuhe und – in Seidenpapier eingehüllt – eine hervorragend gearbeitete goldhaarige Perücke, in demselben Goldton wie Jane Wilkinsons Haar und genau wie dieses in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu Löckchen geordnet.
»Zweifeln Sie noch, Hastings?«
Nein, ich zweifelte nicht länger…
Poirot schloss den Deckel und wandte sich an die Frau.
»Wissen Sie, mit wem Miss Adams gestern zu Abend aß?«
»Nein, Sir.«
»Oder mit wem sie den Lunch einnahm?«
»Ich glaube, mit Miss Driver.«
»Miss Driver?«
»Ja, ihre beste Freundin. Sie hat einen Hutsalon in der Moffat Street, einer Nebenstraße der Bond Street. Geneviève ist der Firmenname.«
Mein Freund notierte die Adresse gleich unter dem Namen und der Wohnung des Arztes.
»Nun noch eins, Miss Bennett, und ich flehe Sie an, gut nachzudenken: Erinnern Sie sich an irgendetwas – was es auch sei –, das Miss Adams bei ihrer Heimkehr um sechs sagte oder tat und das von ihren Gewohnheiten abwich?«
Die Frau dachte angestrengt nach.
»Nein, Sir«, erwiderte sie endlich. »Als sie heimkehrte, setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb Briefe.«
»Briefe? Wissen Sie, an wen?«
»Ja, Sir. Es war nur ein einziger Brief – an ihre Schwester in Washington, der sie regelmäßig zweimal wöchentlich schrieb. Miss Adams nahm ihn mit, aber sie vergaß, ihn einzuwerfen.«
»Dann ist er noch hier?«
»Nein, Sir. Gerade als sie gestern Nacht ins Bett schlüpfte, erinnerte sie sich an ihn. Ich erbot mich, mit ihm hinunterzulaufen und ihn zum Postamt zu bringen.«
»Ah… liegt das weit entfernt?«
»Im Gegenteil, ganz nah. Nur um die Ecke.«
»Hatten Sie die Wohnungstür hinter sich abgeschlossen?«
Alice Bennett sah meinen Freund verblüfft an. »Abgeschlossen? Für den kurzen Sprung zur Post? Aber nein, Sir!«
Poirot schien noch etwas fragen zu wollen, doch dann zähmte er seine Wissbegier.
»Wollen die Herren sie nicht ansehen?«, schlug die Frau schluchzend vor. »Sie sieht so schön, so friedlich aus.«
Wir folgten ihr bereitwillig ins Schlafzimmer.
Der Tod hatte Carlotta Adams um Jahre verjüngt; sie glich eher einem müden Kind, das vom Schlaf überrascht worden ist, als jener Frau, der wir im Savoy begegnet waren.
Ein feierlicher Ernst breitete sich über Poirots Gesicht, als er auf die leblose Gestalt hinabschaute, und ich sah, wie er das Kreuzzeichen schlug.
»Ich habe ein Gelübde getan, Hastings«, sagte er, während wir die Treppen hinabstiegen. Und ein paar Minuten später fügte er hinzu: »Von einer Last ist mein Gewissen wenigstens befreit worden: Ich hätte sie nicht retten können. Zu der Stunde, als ich von Lord Edgwares Ermordung erfuhr, war sie bereits tot. Das tröstet mich. Ja, das tröstet mich sogar sehr.«
10
U nser nächster Gang galt dem Arzt, dessen Adresse uns Miss Bennett gegeben hatte.
Er war ein geschäftiger älterer Mann, der Hercule Poirot dem Namen nach kannte und seinem lebhaften Vergnügen Ausdruck verlieh, ihn in Fleisch und Blut vor sich zu sehen.
»Und womit kann ich Ihnen dienen, Monsieur Poirot?«, erkundigte er sich nach dieser schmeichelhaften Einleitung.
»Sie wurden heute Morgen zu Miss Carlotta Adams gerufen.«
»Ah, ja. Das arme Kind! Und eine begabte Künstlerin außerdem. Ich habe zwei ihrer Vorstellungen gesehen und muss sagen, dass es ein Jammer ist, wie sie endete. Warum diese Mädels immer auf irgendwelche Gifte verfallen, ist mir unverständlich.«
»Sie meinen also, dass sie rauschgiftsüchtig war?«
»Tja, Monsieur Poirot, das ist Ansichtssache. Als Fachmann kann ich Ihnen versichern, dass sie nicht spritzte, denn trotz
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