Dreizehn bei Tisch
freundlichen Worte haben mir so wohlgetan in dem Unglück. Außer dem furchtbaren Kummer, der an meinem Herzen nagt, leide ich unter den Verdächtigungen und Mutmaßungen, die sich an Carlottas Person knüpfen – Carlotta, diese treueste, süßeste Schwester, die je ein Mädchen gehabt hat. Nein, Monsieur Po i rot, sie nahm kein Rauschgift, da bin ich sicher. Sie hatte Angst vor Drogenabhängigkeit, wie sie mir häufig erklärte. Und wenn sie eine Rolle bei der Ermordung des armen Lords gespielt hat, so tat sie es in voller Unschuld – ihr Brief an mich beweist das ja schon. Ich sende Ihnen denselben, weil Sie mich darum bitten, o b wohl es mir unsagbar schwerfällt, mich von den letzten Zeilen, die ihre liebe, gute Hand schrieb, zu trennen. Aber ich habe das feste Vertrauen, dass Sie den Brief wie einen Schatz hüten und ihn mir zurücksenden werden, wenn Sie ihn nicht mehr benötigen. Wie dürfte ich ihn Ihnen vorenthalten, wenn er, wie Sie meinen, vielleicht hilft, das Rätsel um Carlottas Tod zu lösen?
Sie fragen mich, ob Carlotta in ihren Briefen irgendeinen Freund besonders erwähnt habe. Natürlich nannte sie eine Menge Leute, aber keinen hob sie auffällig hervor. Martin Bryan, den wir vor vielen Jahren kennen lernten, eine junge Frau namens Jenny Driver und ein Captain Ronald Marsh sind diejenigen, mit denen sie wohl am meisten verkehrte. Ich wünschte, ich könnte Ihnen irgendwie behilflich sein. Sie schreiben mir so lieb und mit solch zartfühlendem Verständnis. Und Sie scheinen begriffen zu haben, was Carlotta und ich einander waren.
In Dankbarkeit
Ihre Lucie Adams
PS: Gerade ist ein Polizeibeamter wegen des Briefes bei mir gew e sen. Ich gebrauchte eine Notlüge und sagte, ich hätte ihn schon an Sie abgeschickt, denn ich denke, dass Sie Wert darauf legen, ihn als erster zu sehen. Mir scheint, Scotland Yard will ihn als B e weismaterial gegen den Mörder benutzen. Bitte, lieber verehrter Monsieur Poirot, sorgen Sie dafür, dass ich ihn wiederbekomme. Bedenken Sie, es sind Carlottas letzte Worte an mich.
»Warum haben Sie ihr geschrieben?«, forschte ich, als ich den Briefbogen niederlegte. »Warum verlangten Sie das Original, nachdem Sie den Inhalt schon kannten?«
Er beugte den Kopf über die beigefügten Seiten.
»Einen richtigen Grund vermochte ich Ihnen nicht zu nennen, Hastings«, gestand er. »Es sei denn, dass ich mich in der völlig ungerechtfertigten Hoffnung wiegte, der Originalbrief könnte irgendwie das Unerklärliche erklären.«
»Wie soll er das? Carlotta Adams gab ihn ihrer Hausangestellten eigenhändig zur Beförderung – ein Hokuspokus ist mithin nicht mit ihm getrieben worden. Und außerdem liest er sich sicherlich wie ein vollkommen echter, gewöhnlicher Brief.«
Poirot seufzte. »Ich weiß, ich weiß. Und das macht es eben so schwierig. Denn so, Hastings, wie es da schwarz auf weiß steht, ist der Brief unmöglich.«
»Unsinn!«
»Si, si. So, wie ich alles durchdacht habe, müssen gewisse Dinge sein – mit Regel und Methode folgen sie einander in klar verständlicher Art. Aber dann kommt dieser Brief. Er ist nicht in Einklang zu bringen mit allem anderen. Wer hat also Unrecht? Hercule Poirot oder der Brief?«
»Sie glauben nicht, dass es Hercule Poirot sein könnte?«, deutete ich so zart wie möglich an.
Mein Freund warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Es hat Fälle gegeben, in denen ich mich irrte – aber dieser gehört nicht zu ihnen. Rundheraus, Hastings: Da der Brief unmöglich erscheint, ist er unmöglich. In ihm gibt es irgendeine Tatsache, die uns vorderhand noch entgeht, und ich werde nicht ruhen und nicht rasten, bis ich sie entdeckt habe.«
Und hierauf widmete er sich unter Benutzung einer kleinen Taschenlupe dem Studium des Briefes. Jede Seite, mit der er fertig war, reichte er mir. Aber ich konnte nichts Verfängliches entdecken. Der Brief, in einer großen, festen, deutlichen Handschrift geschrieben, wich in keinem Wort von dem telegrafierten Text ab.
»Nichts von Fälschungen irgendwelcher Art!«, stöhnte Hercule Poirot verzweifelt. »Sämtliche Zeilen sind von derselben Hand geschrieben worden. Und dennoch bleibe ich bei meiner Behauptung: Es ist unmöglich – «
Er brach ab und verlangte barsch die Seiten von mir zurück. Wiederum ging er sie der Reihe nach durch.
Ich war vom Frühstückstisch aufgestanden, ans Fenster getreten und schaute auf das morgendliche Getriebe in der Straße hinab. Da hörte ich hinter mir einen
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