Dreizehn bei Tisch
wir uns während der letzten beiden Jahre wenig gesehen; aber als er noch bei uns im Haus lebte – ach, wie war das schön! Immer war er lustig und guter Dinge, immer zu einem Spaß aufgelegt. Wie ein Sonnenstrahl, der etwas Licht in unser düsteres Haus brachte, kam er mir vor.«
»Nicht wahr, Sie möchten nicht, dass er verurteilt wird?«, fragte Poirot, und ich zuckte ein wenig zusammen, weil mich die Frage roh und überflüssig dünkte.
»Nein, nein«, gab das Mädchen unter heftigem Zittern zurück. »Oh, wenn es doch meine Stiefmutter gewesen wäre! Die Herzogin sagt, sie muss es gewesen sein.«
»Ja«, sagte mein Freund weich, »es ist ein Jammer, dass Captain Marsh nicht draußen bei dem Taxi stehenblieb, weil dann der Chauffeur beeiden könnte, dass er Ihr Haus nicht betrat.«
Sie neigte den Kopf. Die Tränen, die sie bislang mühsam zurückgehalten hatte, liefen die blassen Wangen herab.
Poirot nahm ihre Hand. »Ich soll ihn für Sie retten, nicht wahr?«
»Ja, ja. O bitte, retten Sie ihn. Sie wissen nicht – «
»Mademoiselle, Sie haben keine leichte Kindheit gehabt, ich weiß es sehr wohl«, unterbrach er sie ernst. »Nein, es ist bei Gott nicht leicht gewesen… Hastings, besorgen Sie für Mademoiselle bitte ein Taxi.«
Ich begleitete Geraldine Marsh hinunter. Sie hatte sich inzwischen gefasst und dankte mir, als ich die Tür des Wagens schloss, mit ein paar freundlichen, netten Worten.
Oben wanderte Poirot, die Stirn in Falten gelegt, ruhelos im Zimmer auf und ab. Ich sah, wie unglücklich er sich fühlte, und begrüßte daher das laute Gellen des Telefons als eine willkommene Ablenkung.
»Hier Poirot. Ah, Sie sind’s, Japp? Bonjour, mon ami.«
»Was hat er wohl zu melden?«, flüsterte ich, mich näher an den Apparat drängend.
Schließlich sagte Poirot, nachdem er sich geraume Zeit mit einsilbigen Ausrufen begnügt hatte:
»Ja, und wer holte sie ab?«
Die Antwort schien ihn zu enttäuschen.
»Sind Sie sicher, Japp?«
»……….«
»Comment?«
»Nein, es ist nur etwas unerwartet. Ich muss mich umstellen.«
»……….«
»Das ist gleich. Hauptsache, ich hatte Recht, mon cher! Richtig, richtig, eine kleine Einzelheit.«
»……….«
»Nein. Ich bin nach wie vor derselben Ansicht. Stellen Sie Nachforschungen in den Restaurants in der Nachbarschaft von Regent Gate und Euston an. Tottenham Court Road und vielleicht Oxford Street.«
»……….«
»Ja, ein Mann und eine Frau. Und ebenfalls in der Umgebung des Strands, kurz vor Mitternacht. Comment?«
»……….«
»Aber ja. Ich weiß, dass Captain Marsh mit den Dortheimers zusammensaß. Es gibt außer Captain Marsh aber auch noch andere Leute auf der Welt.«
»……….«
»Dickschädelig…? Tout de même, tun Sie mir den Gefallen. Schön, schön. Also besten Dank im Voraus.«
Er legte den Hörer auf.
»Nun, was Gutes?«, forschte ich ungeduldig.
»Weiß ich, ob es was Gutes ist? Die Golddose wurde tatsächlich in Paris gekauft. Auf eine briefliche Bestellung hin hat sie ein sehr bekanntes Pariser Geschäft angefertigt. Der Brief ist von einer Lady Constancy Ackerley unterzeichnet worden und kam zwei Tage vor dem Mord an. Die Dame betonte, dass die Dose mit Initialen und Gravierung am nächsten Tag fertig sein müsse und abgeholt werden würde, das heißt also am Tag vor der Tat. Im Übrigen gibt es eine Lady Constancy Ackerley nicht, mein Lieber, der Name wurde wohl gewählt, damit die Initialen passten.«
»Und man holte die Dose tatsächlich ab?«
»Ja. Die Bezahlung erfolgte in Banknoten.«
»Wer holte sie ab?«, erkundigte ich mich erregt, denn ich fühlte, dass wir uns der Wahrheit näherten.
»Eine Frau, Hastings.«
»Eine Frau?«
»Mais oui. Eine untersetzte Frau mittleren Alters, die einen Kneifer trug.«
Sprachlos schaute ich meinen Freund an.
25
I ch glaube, es war am dritten Tag nach diesem Besuch, als wir uns zum Lunch zu den Widburns nach Claridge begaben.
Weder Poirot noch ich legten auf diese Gesellschaft Wert. Aber nachdem wir bereits sechs Einladungen abgelehnt hatten, ließ uns die beharrliche Mrs Widburn, die gern Berühmtheiten bei sich empfing, zwischen so viel Tagen die Wahl, dass die Kapitulation unvermeidlich wurde.
Poirot zeigte sich seit dem Eintreffen der Pariser Nachricht äußerst wortkarg. Auf meine Bemerkungen gab er stets die gleiche Antwort.
»Da ist etwas, das ich nicht begreife.« Und ein- oder zweimal hörte ich ihn im finsteren Selbstgespräch murmeln: »Ein
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